Wir waren angekommen.
»Willst du zur Quelle, Nino?«
»Das wird noch ein Jahr Zeit haben.«
Wir standen an der Klostermauer und blickten auf die Stadt hinab. Der Kessel des Kuratales lag in bläulichem Dunst. Kirchenkuppeln ragten aus dem Steinmeer hervor wie einsame Inseln. Im Osten und Westen dehnten sich die Gärten: Tummelplätze der Tifliser Lebewelt. In der Ferne erhob sich die finstere Burg Mtech, einst der Sitz der georgischen Könige, jetzt ein Verließ des Russischen Reiches für politisierende Kaukasier. Nino wandte sich ab. Ihre Zarentreue vertrug sich schlecht mit dem Anblick der berühmten Folterburg.
»Sitzen keine Vettern von dir in Mtech, Nino?«
»Nein, aber von Rechts wegen gehörst du hinein. Komm, Ali Khan.«
»Wohin?«
»Besuchen wir Gribojedow.«
Wir bogen um die Klostermauer und blieben am verwitterten Grabstein stehen.
»Deine Taten sind unvergeßlich, aber warum überlebte dich die Liebe deiner Nino?«
Nino bückte sich und hob einen Kieselstein auf. Sie preßte ihn rasch an den Grabstein und ließ die Hand los. Der Stein fiel zu Boden und kullerte uns vor die Füße. Nino errötete tief. Ein alter Tifliser Aberglaube behauptet, daß, wenn ein Mädchen einen Stein an die feuchte Grabplatte preßt und der Stein für einen Augenblick klebenbleibt, sie noch im gleichen Jahr heiraten wird. Ninos Stein fiel zu Boden. Ich sah ihr verlegenes Gesicht und lachte.
»Siehst du? Drei Monate vor deiner Hochzeit! Da hat doch unser Prophet recht mit dem Spruch ›Glaube nicht den toten Steinen‹.«
»Ja«, sagte Nino.
Wir gingen zur Drahtseilbahn zurück.
»Was werden wir nach dem Kriege tun?« fragte Nino.
»Nach dem Kriege? Dasselbe wie jetzt. Durch Baku spazieren, Freunde besuchen, nach Karabagh reisen und Kinder in die Welt setzen. Es wird sehr schön sein.«
»Ich will einmal nach Europa.«
»Gerne. Nach Paris, nach Berlin, einen Winter lang.«
»Ja, einen Winter lang.«
»Nino, gefällt dir unser Land nicht mehr? Wenn du willst, leben wir in Tiflis.«
»Danke, Ali, du bist sehr gut zu mir. Wir bleiben in Baku.«
»Nino, ich glaube, es gibt nichts Besseres als Baku.«
»So? Hast du denn so viele Städte gesehen?«
»Nein, aber wenn du willst, reise ich mit dir um die Welt.«
»Und sehnst dich dabei die ganze Zeit nach der alten Mauer und einem seelenvollen Gespräch mit Seyd Mustafa. Aber es macht nichts. Ich liebe dich. Bleibe, wie du bist.«
»Weißt du, Nino, ich hänge an unserer Heimat, an jedem Stein, an jedem Sandkörnchen der Wüste.«
»Ich weiß. Es ist seltsam — Liebe zu Baku. Für die Fremden ist unsere Stadt nur heiß, staubig, öldurchtränkt.«
»Ja, weil sie Fremde sind.«
Sie legte ihren Arm um meine Schulter. Ihre Lippen berührten meine Wangen.
»Aber wir sind keine Fremden und wollen es nie werden. Wirst du mich immer lieben, Ali Khan?«
»Natürlich, Nino.«
Der Wagen war in der unteren Station angelangt. Eng umschlungen gingen wir durch die Golowinskystraße. Linker Hand lag ein ausgedehnter Park mit schön geschwungenen Gittern. Die Einfahrt war verschlossen. Zwei Soldaten, reglos und atemlos, wie versteinert, hielten die Wache. Über dem vergitterten Tor schwebte majestätisch der vergoldete kaiserliche Doppeladler. Der Park gehörte zum Palais des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, Statthalters des Zaren im Kaukasus.
Plötzlich blieb Nino stehen. »Schau«, sagte sie und zeigte auf den Park. Hinter dem Gitter, im Schatten der Pinienallee, schritt langsam ein langer, hagerer Mann mit graumelierten Haaren. Jetzt wandte er sich um, und ich erkannte die großen, von kaltem Wahn erfüllten Augen des Großfürsten. Sein Gesicht war länglich. Die Lippen fest verschlossen. Im Schatten der Pinie glich er einem großen, edlen und wilden Tier.
»Woran denkt er jetzt, Ali Khan?«
»An die Zarenkrone, Nino.«
»Sie würde ihm gut zu den grauen Haaren stehen. Was wird er tun?«
»Man sagt, er wird den Zaren stürzen.«
»Komm, Ali Khan, ich fürchte mich.«
Wir entfernten uns von dem schön geschwungenen Gitter. Nino sagte:
»Du solltest nicht auf den Zaren schimpfen und nicht auf den Großfürsten. Sie schützen uns vor den Türken.«
»Er ist eine Schere der glühenden Zange, in der dein Land steckt.«
»Mein Land? Und deines?«
»Bei uns ist es anders. Wir sind in keiner Zange. Wir liegen auf dem Amboß, und der Großfürst hält den Hammer. Deshalb hassen wir ihn.«
»Und ihr schwärmt für Enver Pascha. Ein Unsinn, du wirst den Einzug Envers nie erleben. Der Großfürst wird siegen.«
»Allah Barif, Gott allein weiß es«, sagte ich friedliebend.
Die Truppen des Großfürsten standen in Trapezunt, sie eroberten Erzerum und wälzten sich über die kurdischen Berge gen Bagdad. Die Truppen des Großfürsten standen in Teheran, in Täbris, ja sogar in der heiligen Stadt Mesched. Der Schatten des Nikolai Nikolajewitsch fiel über die halbe Türkei und über halb Persien. Einer Versammlung georgischer Edelmänner erklärte der Großfürst:
»Dem Befehle des Zaren gehorchend, werde ich nicht eher ruhen, bis das goldene byzantinische Kreuz in neuem Glanze über der Kuppel der Hagia Sophia erstrahlen wird.«
Es stand schlecht um die Länder des Halbmondes. Nur die Kotschis und Ambals von der Gasse sprachen noch von der Macht des Osmanen und dem siegreichen Schwert Enver Paschas. Es gab kein Persien mehr, und bald würde es auch keine Türkei mehr geben.
Mein Vater war sehr schweigsam geworden und ging oft aus dem Hause. Manchmal beugte er sich über Kriegsberichte und Landkarten, flüsterte die Namen der verlorenen Städte und saß dann stundenlang unbeweglich, den Rosenkranz aus Bernstein in der Hand.
Ich besuchte Juweliere, Blumenhandlungen und Buchgeschäfte. Ich schickte Nino Edelsteine, Blumen und Bücher. Ich sah sie, und für Stunden verschwanden Krieg, Großfürst und der bedrohte Halbmond.
Einmal sagte mein Vater:
»Sei abends zu Hause, Ali Khan. Es kommen verschiedene Leute, und es wird über wichtige Dinge gesprochen werden.«
Seine Stimme klang etwas verlegen, und er blickte weg.
Ich begriff und spottete:
»Hab ich dir nicht schwören müssen, Vater, mich nie mit Politik zu befassen?«
»Um sein Volk besorgt sein, heißt noch nicht, Politik treiben. Es gibt Zeiten, Ali Khan, in denen es Pflicht ist, an die Sache des Volkes zu denken.«
An jenem Abend war ich mit Nino in der Oper verabredet. Es gastierte Schaljapin. Seit Tagen freute sich Nino auf die Vorstellung. Ich ging ans Telephon und rief Iljas Beg an.
»Iljas, ich bin heute beschäftigt. Kannst du mit Nino in die Oper gehen? Ich habe bereits die Karten.«
Eine verdrießliche Stimme antwortete:
»Wo denkst du hin? Ich bin doch nicht mein eigener Herr. Ich habe heute Nachtdienst, zusammen mit Mehmed Haidar.«
Ich rief Seyd Mustafa an.
»Ich kann wirklich nicht. Ich bin mit dem großen Mullah Hadschi Machsud verabredet. Er ist nur für wenige Tage aus Persien gekommen.«
Ich rief Nachararjan an. Seine Stimme klang sehr verlegen:
»Warum gehen Sie denn nicht, Ali Khan?«
»Es kommen Gäste zu uns.«
»Um zu beraten, wie man alle Armenier umbringt. Nicht wahr? In der Zeit, da mein Volk verblutet, sollte ich eigentlich nicht ins Theater gehen. Aber da wir Freunde sind — überdies singt Schaljapin wirklich ausgezeichnet.«
Endlich. In der Not zeigt sich der wahre Freund. Ich verständigte Nino und blieb zu Hause.
Um sieben Uhr kamen die Gäste, genau die, die ich erwartet hatte. Unser großer Saal mit den roten Teppichen und weichen Ottomanen beherbergte um halb acht eine Milliarde Rubel, oder vielmehr Menschen, die über eine Milliarde verfügten. Ihre Zahl war nicht groß, und sie waren mir alle seit Jahren bekannt.
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