Wir schwiegen betroffen. Das war also die Häresie des Bab.
Neben mir ertönte ein lautes Schluchzen. Ich blickte mich erstaunt um und sah das Gesicht Ali Assadullahs tränenüberströmt und gramverzehrt.
»Oh, meine Seele«, schluchzte er, »wie recht Sie haben. Welch Glück, Ihnen zu lauschen. Oh, Allmächtiger! Wenn bloß alle Menschen zu gleich tiefer Erkenntnis gelangt wären.«
Er trocknete sich die Tränen, schluchzte noch ein paarmal und fügte bedeutend kühler hinzu:
»Ohne Zweifel, mein Verehrungswürdiger, die Hand Gottes ist über allen Händen, aber deshalb ist es nicht weniger wahr, o Quelle der Weisheit, daß man sich auf die gnadenvolle Eingebung des Allerhöchsten nicht unbedingt verlassen kann. Wir sind nur Menschen, und wenn die Eingebung fehlt, müssen wir selbst Wege finden, um die Schwierigkeiten zu beseitigen.«
Es war ein kluger Satz und es waren kluge Tränen. Ich merkte, wie Mirza seinen Bruder voll Bewunderung ansah.
Die Gäste erhoben sich. Schmale Hände berührten grüßend die dunklen Stirnen. Die Rücken beugten sich und die Lippen murmelten:
»Friede über euch. Bleiben Sie mit einem Lächeln zurück, o Freund.«
Die Sitzung war zu Ende. Die Milliarde ergoß sich über die Straße, grüßend, händedrückend und kopfnickend. Es war halb elf. Der Saal war leer und bedrückend. Einsamkeit überfiel mich. Ich sagte dem Diener:
»Ich gehe noch weg. Zur Kaserne. Iljas Beg hat Nachtdienst.«
Ich ging zum Meer, am Hause Ninos vorbei, zur großen Kaserne. Im Fenster des Wachgebäudes brannte Licht. Iljas Beg und Mehmed Haidar würfelten. Ich trat ein. Ein stummes Kopfnicken begrüßte mich. Endlich war das Spiel zu Ende. Iljas Beg warf die Würfel in die Ecke und knöpfte seinen Kragen auf.
»Wie war es?« fragte er. »Hat Assadullah wieder einmal geschworen, alle Russen umzubringen?«
»So ungefähr. Was hört man vom Krieg?«
»Krieg«, sagte er gelangweilt, »die Deutschen haben ganz Polen besetzt. Der Großfürst wird im Schnee steckenbleiben oder auch Bagdad besetzen. Vielleicht werden die Türken Ägypten erobern. Was weiß ich? Es ist langweilig auf dieser Erde.«
Mehmed Haidar rieb seinen kurzgeschorenen, spitzen Schädel.
»Es ist gar nicht langweilig«, sagte er, »wir haben Pferde und Soldaten und verstehen mit Waffen umzugehen. Was braucht ein Mann mehr? Manchmal will ich über die Berge ziehen, im Schützengraben liegen und einen Feind vor mir haben. Der Feind soll gute Muskeln haben und seine Haut soll nach Schweiß riechen.«
»Melde dich doch zur Front«, sagte ich.
Mehmed Haidars Augen blickten unter der niedrigen Stirn traurig und verloren.
»Ich bin nicht der Mann, der auf Mohammedaner schießt. Auch wenn sie Sunniten sind. Aber ich habe den Eid geleistet und kann auch nicht desertieren. Es sollte alles ganz anders werden bei uns im Land.«
Ich sah ihn liebevoll an. Er saß breitschultrig, kräftig, mit einfältigem Gesicht, und erstickte fast vor Kampflust.
»Ich will an die Front, und ich will auch nicht«, sagte er bekümmert.
»Was soll mit unserm Land geschehen?« fragte ich ihn.
Er schwieg und runzelte die Stirn. Das Denken war nicht seine Stärke. Endlich sagte er:
»Unser Land? Moscheen sollte man bauen. Der Erde Wasser geben. Unsere Erde ist durstig. Es ist auch gar nicht gut, daß jeder Fremde zu uns kommt und uns sagt, wie dumm wir sind. Es ist unsere Sache, wenn wir dumm sind. Und dann: ich glaube, es wäre sehr schön, ein großes Feuer anzulegen und alle Öltürme im Lande zu verbrennen. Es wäre ein herrlicher Anblick, und wir wären wieder arm. Niemand brauchte uns dann, und die Fremden ließen uns in Ruhe. Und an Stelle der Bohrtürme würde ich eine schöne Moschee bauen, mit blauen Kacheln. Büffel müßten kommen, und auf dem Ölland sollten wir Getreide pflanzen.«
Er verstummte, in die Vision der Zukunft versunken. Iljas Beg lachte vergnügt:
»Und dann sollte man das Lesen und das Schreiben verbieten, Kerzenlicht einführen und den dümmsten Menschen im Lande zum König wählen.«
Mehmed Haidar überhörte den Spott.
»Gar nicht schlecht«, sagte er, »in früheren Zeiten gab es viel mehr Dumme als jetzt. Die Dummen bauten Wasserkanäle statt Ölquellen, und die Fremden wurden ausgeraubt, anstatt daß sie uns ausraubten. Früher gab es viel mehr glückliche Menschen.«
Ich wollte den einfältigen Burschen umarmen und küssen. Er sprach, als ob er selbst ein Klumpen unserer armen, trockenen, mißhandelten Erde wäre.
Ein wildes Klopfen am Fenster riß mich empor. Ich blickte hinaus. Ein dunkles, pockennarbiges Gesicht starrte mich an. Die schräg sitzenden Augen blitzten.
»Ich bin es, Seyd Mustafa. Laßt mich hinein.«
Ich lief zur Tür. Seyd Mustafa stürzte ins Zimmer. Sein Turban hing schief über die schweißbedeckte Stirn. Sein grüner Gurt war aufgelöst, und der graue Überwurf staubig. Er fiel in den Sessel und rief keuchend:
»Nachararjan hat Nino entführt. Vor einer halben Stunde. Sie sind auf dem Wege nach Mardakjany.«
Mehmed Haidar sprang auf. Seine Augen wurden ganz klein. »Ich sattle gleich die Pferde«, er stürzte hinaus. Mein Gesicht glühte. Das Blut drang in die Schläfen, ich hörte ein Sausen, und mir war, als ob eine unsichtbare Hand mit einem Stock auf meinen Kopf einschlage. Wie im Traume vernahm ich die Stimme Iljas Begs:
»Behalte die Fassung, Ali Khan, behalte die Fassung. Verlier sie erst in einer Stunde, wenn wir die beiden eingeholt haben.«
Er stand vor mir. Sein schmales Gesicht war sehr blaß. Er umgürtete mich mit einem geraden kaukasischen Dolch.
»Hier«, sagte er und drückte mir einen Revolver in die Hand, und wieder: »Bleibe ruhig, Ali Khan. Spar die Wut auf für den Weg nach Mardakjany.«
Mechanisch steckte ich die Waffe in die Tasche. Das Gesicht des Pockennarbigen neigte sich zu mir. Ich sah, wie sich die dicken Lippen bewegten, und hörte abgerissene Worte:
»Ich verließ mein Haus, um den weisen Mullah Hadschi Machsud zu besuchen. Das Zelt seiner Weisheit steht neben dem Theater. Wir sprachen von dem Imamat der Zeidi. Um elf Uhr verließ ich ihn. Ich ging am Theater vorbei. Das Sündenspiel war gerade beendet. Ich sah Nino in Begleitung Nachararjans das Auto besteigen. Das Auto fuhr nicht ab. Die beiden sprachen miteinander. Nachararjans Gesicht mißfiel mir. Ich schlich mich heran. Ich lauschte. ›Nein‹, sagte Nino, ›ich liebe ihn.‹ — ›In diesem Land wird kein Stein stehenbleiben‹, sagte Nachararjan, ›ich liebe Sie mehr. Ich entreiße Sie den Klauen Asiens.‹ — ›Nein‹, sagte Nino, ›bringen Sie mich heim.‹ Er schaltete den Motor ein. Ich sprang hinten auf das Koffergestell. Das Auto fuhr zum Hause der Kipianis. Ich hörte nicht, was sie unterwegs sprachen. Aber sie sprachen viel. Am Hause hielt der Wagen. Nino weinte. Plötzlich umarmte Nachararjan sie und küßte ihr Gesicht. ›Sie dürfen nicht in die Hände der Wilden fallen‹, rief er, dann flüsterte er noch etwas, und zum Schluß hörte ich nur einen Satz: ›Zu mir nach Mardakjany, in Moskau lassen wir uns trauen und dann nach Schweden.‹ Ich sah, wie Nino ihn zurückstieß. Da sprang der Motor an. Sie waren weg. Ich lief, was ich konnte, um…«
Er sprach nicht zu Ende, oder ich habe nicht zu Ende gehört. Mehmed Haidar riß die Türe auf. »Die Pferde sind gesattelt«, rief er. Wir eilten in den Hof. Im Scheine des Vollmondes sah ich die Tiere. Sie wieherten leise und stampften mit den Hufen.
»Hier«, sagte Mehmed Haidar.
Er führte mich zu meinem Pferd. Ich sah es an und erstarrte. Das rotgoldene Wunder aus Karabagh, das Pferd Melikows, des Regimentskommandanten. Auf der ganzen Welt gab es keine zwölf dieser Art. Mehmed Haidar blickte finster.
»Der Kommandant wird toben. Nie saß ein anderer auf diesem Pferd. Es jagt wie der Wind. Schon es nicht. Du holst sie ein.«
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