»Hunger«, sagte ich mit Würde und setzte mich mit gekreuzten Beinen auf die Pritsche.
»Er ist gesund«, brüllten die Vettern, »schnell eine Wassermelone, Käse, Gemüse, Wein.«
Die Kur war beendet.
Wir lagen im Vorraum des Bades und schmausten. Alle Müdigkeit und Schwäche war von mir gewichen. Das rote, duftende Fleisch der eiskalten Wassermelone vertrieb mir den Geschmack des Schwefels. Die Vettern nippten am weißen Napareuli.
»Siehst du«, sagte Dodiko und beendete den Satz nicht, denn in diesem »Siehst du« war bereits alles enthalten, der Stolz auf das einheimische Schwefelbad, das Mitleid mit dem Fremden, der unter der georgischen Gastfreundschaft zusammenbrach, und die verwandtschaftlich liebevolle Versicherung, daß er, Dodiko, für die Schwächen seines mohammedanischen Vetters volle Nachsicht habe.
Unser Kreis erweiterte sich. Nachbarn kamen herbei, nackt und mit Weinflaschen bewaffnet. Fürsten und die Gläubiger der Fürsten, Diener, Schmarotzer, Gelehrte, Dichter und Gutsbesitzer aus den Bergen saßen friedlich beisammen, ein heiteres Bild georgischer Gleichheit. Es war kein Bad mehr, es war ein Klub, ein Kaffeehaus oder eine Volksversammlung nackter lustiger Menschen mit unbekümmerten, lachenden Augen. Hie und da aber fielen ernste Worte, die von düsteren Vorahnungen erfüllt waren.
»Der Osmane kommt«, sagte ein dicker Mann mit kleinen Augen, »der Großfürst wird Stambul nicht einnehmen. Ich habe gehört: ein deutscher General hat in Stambul eine Kanone gebaut. Wenn sie schießt, trifft sie genau die Kuppel des Zionsdomes in Tiflis.«
»Sie irren, Fürst«, sagte ein Mann mit dem Gesichte eines Kürbis, »die Kanone ist noch gar nicht gebaut. Sie ist nur geplant. Aber auch wenn sie fertig wird, kann sie Tiflis nicht treffen. Alle Landkarten, nach denen sich die Deutschen richten müssen, sind falsch. Russen haben sie gezeichnet. Noch vor dem Kriege. Sie verstehen? Russische Karten. Können die stimmen?«
Jemand seufzte in der Ecke. Ich blickte mich um und sah einen weißen Bart und eine lange gebogene Nase.
»Armes Georgien«, seufzte der Bart, »wir sind wie zwischen zwei Scheren einer glühenden Zange. Siegt der Osmane — ist es aus mit dem Lande Tamars. Siegt der Russe — was dann? Der bleiche Zar hat sein Ziel erreicht, aber unsern Hals umklammern die Finger des Großfürsten. Schon jetzt fallen unsere Söhne im Kampf, die Besten der Besten. Und dann? Was übrigbleibt, erwürgt der Osmane, der Großfürst oder sonst jemand, vielleicht eine Maschine, vielleicht ein Amerikaner. Es scheint ein Rätsel: unser kriegerisches Feuer und sein jähes Verlöschen. Es ist aus mit dem Lande Tamars. Schaut doch: die Krieger sind klein und schmächtig, die Ernte arm, der Wein sauer.«
Der Bart verstummte, leise schnaufend. Wir schwiegen. Plötzlich flüsterte eine ängstliche, unterdrückte Stimme:
»Den Bagration haben sie umgebracht, den edlen. Die Nichte des Zaren hat er heimgeführt, und die Russen verzeihen es ihm nicht. Der Zar selbst befahl ihn ins Eriwanische Regiment, an die Front. Wie ein Löwe kämpfte Bagration und fiel, von achtzehn Kugeln durchbohrt.«
Die Vettern nippten den Wein. Ich saß mit gekreuzten Beinen und starrte vor mich hin. Bagration, dachte ich, das älteste Fürstengeschlecht der Christenwelt. Der Bärtige hat recht. Georgien vergeht zwischen zwei Scheren einer glühenden Zange.
»Einen Sohn hat er hinterlassen«, ergänzte ein anderer, »Teymuras Bagration, den wahren König. Jemand hütet ihn.«
Es wurde still. Der Mekisse stand an der Wand. Dodiko reckte sich und gähnte verzückt.
»Schön ist es«, sagte er, »unser Land. Der Schwefel und die Stadt, der Krieg und der kachetische Wein. Schaut, wie die Alasan durch die Ebene fließt. Es ist schön, Georgier zu sein, auch wenn Georgien vergeht. Was ihr da sagt, klingt hoffnungslos. Aber wann war es anders im Lande Tamars? Und dennoch fließen die Flüsse, wächst die Rebe, tanzt das Volk. Schön ist unser Georgien. Und wird es immer bleiben, in all seiner Hoffnungslosigkeit.«
Er erhob sich, jung und schlank, mit weicher, samtener Haut, der Nachfahre von Sängern und Helden. Der weiße Bart in der Ecke lächelte wohlgefällig.
»Bei Gott, wenn es noch solche Jugend gibt.«
Wamech beugte sich zu mir.
»Ali Khan, vergiß nicht. Du bist heute Gast des Hauses Dschakeli in Kadschory.«
Wir erhoben uns und gingen hinaus. Der Kutscher schlug auf die Pferde ein. Wamech sagte:
»Die Dschakelis stammen aus dem alten, fürstlichen Geschlecht der…«
Ich lachte fröhlich und ausgelassen.
Wir saßen im Café Mephisto, in der Golowinskystraße, Nino und ich. Vor uns erhob sich der Davidsberg mit dem großen Kloster. Die Vettern gewährten uns einen Tag Ruhe. Nino blickte zum Kloster hinauf. Ich wußte, woran sie dachte. Oben, auf dem Davidsberg, war ein Grab, das wir besucht hatten. Alexander Gribojedow ruhte dort. Dichter und Minister Seiner Majestät des Zaren. Am Grabe die Inschrift:
»Deine Taten sind unvergeßlich, aber warum überlebte dich die Liebe deiner Nino?«
Nino? Ja. Sie hieß Nino Tschawtschawadse und war sechzehn Jahre, als der Minister und Dichter sie heimführte. Nino Tschawtschawadse, die Großtante der Nino, die neben mir saß. Siebzehn Jahre war sie, als das Volk von Teheran das Haus des russischen Ministers umlagerte.
»Ya Ali Salawat, o gepriesener Ali«, rief das Volk. Der Minister hatte nur einen kurzen Degen und eine Pistole.
Ein Schmied aus der Sülly-Sultan-Straße hob seinen Hammer und zertrümmerte die Brust des Ministers. Nach Tagen fand man am Rande von Teheran zerfetztes Fleisch. Und einen Kopf, den die Hunde bereits abgenagt hatten. Das war alles, was blieb, von Alexander Gribojedow, dem Dichter und Minister des Zaren. Feth Ali Schah, der Kadschare, war damals sehr zufrieden, und auch der Thronfolger Abbas Mirza war sehr glücklich. Meschi Aga, ein fanatischer und weiser Greis, wurde vom Schah hoch belohnt, und auch ein Schirwanschir, mein Großonkel, bekam ein Gut in Giljan.
Das Ganze geschah vor hundert Jahren. Jetzt saßen auf der Terrasse des Cafés Mephisto ich, Schirwanschir, der Großneffe, und sie, Nino, die Großnichte.
»Wir müßten Blutfeinde sein, Nino«, ich deutete mit dem Kopf zum Klosterberg, »wirst du mir auch einmal einen so schönen Grabstein setzen?«
»Vielleicht«, sagte Nino, »je nachdem, wie du dich zu Lebzeiten benimmst.«
Sie trank ihren Kaffee zu Ende.
»Komm«, sagte sie, »wir wollen durch die Stadt gehen.«
Ich erhob mich. Nino liebte diese Stadt wie ein Kind die Mutter. Wir gingen die Golowinskystraße hinauf, zu den Gassen der Altstadt. Vor dem Zionsdom blieb Nino stehen. Wir traten in den dunklen, feuchten Raum. Der Dom war uralt. Kreuzartig gebaut, mit spitzer Kuppel, barg er die Erinnerungen an alles Blut, das um dieser Stadt willen vergossen ward. Oben am Altar stand das Kreuz aus Weinstock. Die heilige Nino, die Erleuchterin Georgiens, brachte es einst aus dem Westen hierher, mit der ersten Kunde vom Heiland der Welt. Nino kniete nieder. Sie bekreuzigte sich und blickte zum Bilde ihrer Schutzheiligen empor. Sie flüsterte:
»Heilige Nino, vergib mir.«
Im Lichte des Kirchenfensters sah ich Tränen in ihren Augen.
»Komm heraus«, sagte ich. Sie trat folgsam aus der Kirchentür. Wortlos gingen wir durch die Straßen. Dann sagte ich:
»Was soll die heilige Nino dir verzeihen?«
»Dich, Ali Khan.«
Ihre Stimme war traurig und müde. Es war nicht gut, mit Nino durch die Straßen von Tiflis zu gehen.
»Warum mich?«
Wir waren am Maidan. Georgier saßen in den Kaffeehäusern oder mitten auf den Straßen. Irgendwo klang die Zurna. Weit unten schäumte die Kura. Nino blickte in die Ferne, als ob sie sich selber dort suchen würde.
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