»Träumen Sie oft von Eisenbahnen oder Flugzeugen?« fragte der Arzt, und John antwortete: »Nein, ich träume überhaupt nie.«
»Oh!« sagte der Arzt besorgt und kniff die Augen zusammen.
»Komm«, rief Sam auf türkisch. »Rasch, sonst wird es zu spät.«
John sprang auf. Auch der Arzt erhob sich. »Aha«, sagte er und nahm Sam unter den Arm. Er führte ihn zur Seite und flüsterte: »Sie sind wohl der Wärter? Typischer Cäsarenwahn. Neigung zu manisch-depressiven Zuständen. An wen darf ich die Honorarnote schicken?«
»Welche Note?« fragte Sam gereizt.
Dr. Kurz wurde sehr würdevoll: »Fünfzig Schilling, wenn ich bitten darf, für ärztliche Behandlung.«
»Zwanzig genügen«, zischte Sam und schob dem Arzt den Schein zu. Dann ergriff er John an der Hand und zog ihn aus dem Zimmer.
»Ich begriff es sofort«, sagte John im Hotelgang und kniff ein Auge listig zusammen. »Dieser Arzt ist der Mann meiner Braut. Sie wollte Zeit gewinnen, bis sie gepackt hat. Jetzt ist sie wohl fertig?«
»Schweig schon«, flüsterte Sam und führte John zum Wagen.
Erst als der Wagen aus dem Hotelhof hinausfuhr, sagte er überlegen: »Merk dir, John — wenn ein Autor ohne Agenten zu verhandeln beginnt, so endet er in der Irrenanstalt. Der Arzt hat recht, du hast Cäsarenwahn. Du bildest dir ein, ohne mich eine Verhandlung führen zu können. Ich werde morgen zu der richtigen Asiadeh gehen und ohne dich die Frage regeln. Auch zum Ehevertrag braucht man einen Agenten.« Er sprach lange und überlegen, und John sank merklich in sich zusammen.
»Sam«, sagte er sehr kleinlaut, »glaube mir. Die Frau war mir sofort unsympathisch.« Er schüttelte betrübt den Kopf und spuckte aus. Das Auto fuhr nach Wien.
Um die gleiche Zeit hielt ein Wagen mit zerschlagener Scheibe am Ringhaus. Asiadeh lief die Treppe hinauf und fand Hassa mit dem Hut in der Hand reisebereit im Zimmer stehen.
»Hassa«, rief sie und schluchzte. »Ich habe deinen Freund Kurz beleidigt, ich habe das Auto kaputtgefahren, ich habe hundert Dollar zerrissen und fremde Leute angespuckt, und an allem ist Marion schuld.« Sie schluchzte, und ihr Kopf vergrub sich in Hassas Schulter. Hassa sah sie an, sah die zitternden Schultern und verweinte graue Augen. Dieses wilde Mädchen liebte ihn, hieran konnte er nicht zweifeln, auch wenn diese Liebe fremd und unverständlich war, voll seltsamer Regungen, Einfälle und Impulse. Er streichelte Asiadehs Haare und sprach leise und begütigend:
»Marion gibt es gar nicht, es hat nie eine Marion gegeben. Es gibt nur Asiadeh.«
Asiadeh sah ihn dankbar an. »Ja«, sagte sie, »es gibt nur Asiadeh, und die hat vergessen, sich die Nummer des Wagens zu merken, den sie angefahren hat. Sei nicht böse, Hassa, ich will nie wieder chauffieren.«
Zigarrenkauend und bedächtig ging Sam Dooth über die Ringstraße. Vor den Kinos blieb er minutenlang stehen und schüttelte mißbilligend den Kopf. Wien war eine rückständige Stadt. Es lief kein Film von John. »Sommersaison«, brummte er verärgert und ging weiter. Die Straßen waren sündhaft breit und die Häuser beschämend niedrig. Es war eine Kateridee, nach Europa zu fahren. Man hätte den Urlaub in Mexiko verbringen können oder auf Kuba. John sollte die Frauen in Ruhe lassen. Frauen haben dem Hause Osman stets nur Ärger gebracht.
Sam blieb stehen und schüttelte die Asche ab. Es waren nun sechs Jahre her, daß er den zerlumpten und verhungernden John in einer Spelunke in der Bowery entdeckt hatte. Sein kluges griechisches Herz hatte sofort eine Chance gewittert. Er gab dem Armen zu essen und taufte ihn John Rolland. Aber hinter dem gestärkten Frackhemd, hinter dem rötlichen Paßheft lebte eine labile osmanische Seele.
Er ist ein Säufer — dachte Sam — und er wird es so lange bleiben, bis er Ruhe gefunden hat. Er runzelte die Stirn und freute sich, daß Menschenliebe und Geschäft bei ihm so eng ineinander gingen. Wenn er noch drei Jahre säuft, wird er leberkrank. In fünf Jahren sieht er weiße Mäuse. Die Osmanen sind von zarter Gesundheit, und dann ist es aus mit den Filmen. Sam dachte an John mit der gleichen zärtlichen Besorgtheit wie eine Bäuerin an die beste Milchkuh. Vielleicht hilft ihm eine gute Frau — dachte er weiter —, eine Frau, die demütig und still ist und seine Abende ausfüllt. Er soll mit ihr hin und wieder an die Heimat denken können. Das inspiriert ihn. Er ist ja ein Wahnsinniger.
Sam Dooth zuckte mit den Achseln. Er selbst dachte nie an die Heimat. Er blieb stehen. Das Messingschild mit der Aufschrift »Dr. Alexander Hassa« blinzelte ihn an. Er ging die breite Treppe hinauf, klingelte und verlangte Asiadeh. Er wurde in den kleinen Salon mit dem Erkerfenster geführt.
Sam Dooth war ein erfahrener Agent und tüchtiger Geschäftsmann. Sein Herz war ausgeglichen, und sein Kopf war klar. Jetzt aber blieb er wie angewachsen im Salon stehen und blinzelte fassungslos.
Die temperamentvolle blonde Dame, die einen Hundertdollarschein zerriß, sah ihn lächelnd an. »Ah…«, sagte Sam Dooth und sah sich ängstlich im Salon um. Es waren aber keine schweren Gegenstände in der Nähe.
»Madame«, sagte er, und die vorbereitete Rede blieb ihm in der Kehle stecken, »Madame, verzeihen Sie, daß ich eindringe. Es gelang uns, an Hand Ihrer Autonummer Ihre Adresse zu finden. Mein Freund und ich sind trostlos, Ihre Mißgunst hervorgerufen zu haben.«
»Sie können mit mir türkisch reden«, sagte die blonde Dame und sah ihm böse ins Gesicht. »Sie haben bereits in dieser Sprache meinen Busen und meine Hüften lobend erwähnt.«
Sam blickte betrübt drein. Gleich würde sie eine Messingplatte nehmen und sie ihm an den Kopf schmeißen… Oder ihm die Augen auskratzen. Frauen, die Dollarnoten zerreißen, sind zu allem fähig.
»Hanum«, sagte er in dem weichsten Stambultürkisch, »wenn auch meine Sünden zahlreicher sind als die Sandkörner in der Wüste, Ihre Güte vermag sie in ein Nichts zu verwandeln. Entsinnt Euch, Hanum, als der Sultan den großen Saadi bei einer Sünde ertappte, rief Saadi: ›O Sultan, schau dir die Sünde an, und du wirst mir verzeihen.‹«
Sam Dooth war ein kluger Mann. Wahrscheinlich war er doch am Aristokratenhügel Phanar zur Welt gekommen. Asiadeh klatschte vergnügt in die Hände.
»Hassa«, rief sie, »komm her!«
Die Tür öffnete sich. Der weißbekleidete Hassa trat ein.
»Dieser da«, sprach Asiadeh, »ist einer von den zwei Ausländern, die ich gestern angefahren und bespuckt habe. Er ist wohlerzogen, denn er ist aus Istanbul, und er bittet sehr, ich möge ihm verzeihen. Soll ich ihm verzeihen, Hassa?«
»Verzeih ihm«, sagte Hassa. Er sah einen dicken, schwarzhaarigen Mann, der schüchtern im Salon stand, und er wußte nicht, daß dieser Mann ihm die Frau nehmen, sein Haus und seinen Frieden zerstören wollte, alles eines Mannes wegen, der John Rolland hieß und vom Delirium bedroht war.
»Herr Doktor, verehrte Hanum«, Sam Dooth war ganz Demut, »mein Freund und ich wären glücklich, Sie heute unsere Gäste nennen zu dürfen. Wir treffen so selten Landsleute in Europa.«
Asiadeh sah fragend zu Hassa empor.
»Geh allein«, sagte Hassa, »heute ist Donnerstag, ich bin in der Ärztegesellschaft.«
Sam Dooth blickte ihn erstaunt an. Die Männer in Europa waren sehr dumm. Gott straft die Dummen und hilft den Klugen. Eine blonde Frau, eine schöne Frau, und er läßt sie allein mit zwei fremden Männern ausgehen. Er ist dumm. Man braucht keine Gewissensbisse zu haben.
Er verbeugte sich und verließ das Haus. Kuppelei war ein uralter ehrwürdiger Beruf. Die assyrischen Keilinschriften berichten bereits von Kupplern. Im heiligen Palast von Byzanz stritten die Kuppler der ganzen Welt um die Ehre, dem Kaiser die Basilisa ins Bett zu legen. Ganze Provinzen wurden als Kuppelpelz verschenkt. In alle Windrichtungen sandte der Großosmane von Istanbul die Kuppler hinaus. Fürsten und Paschas sandten ihm Frauen. Kuppler sein war ein alter, ein ehrwürdiger Beruf. Sam Dooth war sehr stolz.
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