Lillian glaubte, in ein falsches Zimmer geraten zu sein. Dann sah sie Clerfayts Mantel hängen. »Wer sind Sie?« fragte sie.
»Ich glaube, das könnte ich eher Sie fragen«, erwiderte die Frau scharf. »Ich bin die Schwester Clerfayts. Und was wollen Sie? Wer sind Sie?«
Lillian schwieg. Clerfayt hatte ihr einmal erzählt, er habe irgendwo eine Schwester, die er hasse und die ihn hasse. Er habe seit vielen Jahren nichts von ihr gehört. Es mußte diese Frau sein. Sie ähnelte Clerfayt in nichts. »Ich wußte nicht, daß Sie angekommen sind«, sagte Lillian. »Nun, da Sie da sind, habe ich hier nichts mehr zu tun.«
»Zweifellos nicht«, erwiderte die Frau frostig. »Mir wurde gesagt, daß mein Bruder hier mit irgendeiner Person zusammengelebt habe. Sind Sie das?«
»Auch das braucht Sie nicht mehr zu interessieren«, sagte Lillian und drehte sich um.
Sie ging hinaus und zurück in ihr Zimmer. Sie begann zu packen, aber sie hörte bald auf. Ich kann nicht wegfahren, solange er noch hier ist, dachte etwas in ihr. Ich muß bleiben, bis er begraben ist.
Sie ging noch einmal zum Hospital; die Empfangsschwester erklärte ihr, daß sie Clerfayt nicht mehr sehen könne; eine Obduktion werde auf Wunsch eines Mitgliedes der Familie vorgenommen. Danach würde der Körper in einen Zinksarg verlötet und fortgeschickt werden.
Vor dem Hospital traf sie den Rennleiter. »Wir fahren heute abend ab«, sagte er. »Haben Sie das Biest mit den großen Zähnen gesehen? Die Schwester? Sie läßt ihn zerschneiden. Sie will gegen die Firma und gegen die Rennleitung auf Schadenersatz wegen Nachlässigkeit klagen. Sie war schon bei der Polizei. Sie kennen doch unsern Direktor. Sie war auch bei ihm. Er hat vor niemand Angst, aber er war blaß, als das Weib nach einer halben Stunde herauskam. Sie verlangt eine Rente auf Lebenszeit. Behauptet, Clerfayt sei ihr einziger Ernährer gewesen. Wir fahren alle ab. Fahren auch Sie ab! Es ist vorbei.«
»Ja«, erwiderte Lilian. »Es ist vorbei.«
Sie ging planlos in den Straßen herum; sie saß an Tischen und trank etwas, und abends ging sie in das Hotel zurück. Sie war jetzt sehr müde. Der Arzt hatte ihr ein Schlafmittel dagelassen. Sie brauchte es nicht zu nehmen; sie schlief sofort ein.
* * *
Das Telefon weckte sie. Clerfayts Schwester war am Apparat. Sie müsse dringend mit ihr sprechen, erklärte sie befehlshaberisch. Lillian solle sofort herüberkommen.
»Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, tun Sie es jetzt am Telefon«, sagte Lillian.
»Es geht nicht über das Telefon.«
»Dann kommen Sie heute Mittag um zwölf Uhr in die Hotelhalle.«
»Das ist zu spät.«
»Nicht für mich«, erwiderte Lillian und hing ab.
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor zehn. Sie hatte vierzehn Stunden geschlafen und war immer noch wie zerschlagen. Sie ging ins Badezimmer und wäre auch im Bad wieder eingeschlafen, wenn nicht jemand heftig an die Zimmertür gepocht hätte. Sie zog ihren Bademantel an. Bevor sie die Tür öffnen konnte, stürzte die Schwester Clerfayts herein; Lillian hatte keine Gelegenheit mehr, sie aufzuhalten.
»Sie sind Miss Dunkerque?« fragte die Frau im grauen Schneiderkostüm.
»Sie können mich um zwölf Uhr in der Hotelhalle sprechen«, erwiderte Lillian. »Nicht hier.«
»Das ist doch dasselbe. Jetzt bin ich hier. Ich —«
»Sie sind gegen meinen Willen hier«, unterbrach Lillian. »Dies ist mein Zimmer. Wollen Sie, daß ich die Direktion rufe, mir zu helfen?«
»Ich kann nicht bis zwölf warten. Mein Zug fährt vorher. Wollen Sie, daß die Leiche meines Bruders auf dem heißen Perron warten muß, bis Sie Zeit haben, mit mir zu sprechen?«
Lillian sah auf das schmale, schwarze Kreuz, das die Frau an einer dünnen Kette um den Hals trug. Diese Person schreckte vor nichts zurück, um ihren Willen durchzusetzen, dachte sie. »Ich habe hier«, fuhr die Schwester fort, »unter den Papieren meines Bruders eine Kopie gefunden, deren Original wahrscheinlich Sie besitzen. Es handelt sich um die Verschreibung eines Hauses an der Rivera auf Sie.«
»Auf mich?«
»Wissen Sie nichts davon?«
Lillian sah das Papier in der knochigen Hand, auf der zwei Eheringe saßen. Eine Witwe also — kein Wunder. »Zeigen Sie mir das Papier«, sagte Lillian.
Die Schwester zögerte. »Kennen Sie es nicht?«
Lillian erwiderte nichts. Sie hörte, daß das Wasser im Badezimmer immer noch lief und ging, es abzudrehen.
»War es das, was Sie mir so dringend mitteilen wollten?« fragte sie, als sie zurückkam.
»Ich wollte Ihnen erklären, daß die Familie das selbstverständlich nicht anerkennt. Wir werden uns dagegen wehren.«
»Tun Sie das. Und jetzt lassen Sie mich bitte allein.«
Die Frau blieb stehen. »Es wäre einfacher und auch wohl taktvoller, wenn Sie eine Erklärung abgäben, daß Sie dieses Vermächtnis, das mein Bruder zweifellos nicht unbeeinflußt gemacht hat, nicht anerkennen.«
Lillian starrte sie an. »Haben Sie die Erklärung nicht vielleicht auch schon aufgesetzt?«
»Das habe ich. Sie brauchen sie nur zu unterschreiben. Hier! Ich freue mich, daß Sie wenigstens dafür Verständnis haben.«
Lillian nahm die Erklärung und zerriss sie, ohne sie zu lesen. »Gehen Sie jetzt. Ich habe genug.«
Die Schwester geriet nicht aus der Fassung. Sie betrachtete Lillian scharf. »Sie sagten, Sie wüssten gar nichts von diesem Vermächtnis? Dann haben Sie also kein Papier darüber?«
Lillian ging zur Tür und öffnete sie. »Das überlasse ich Ihnen, herauszufinden.«
»Das werde ich! Das Recht ist auf unserer Seite! Es gibt schließlich noch Unterschiede zwischen Blutsverwandten und irgendeiner hergelaufenen Abenteurerin und Erbschleicherin, die —«
Auf dem Tisch stand eine Schale mit Veilchen, die Clerfayt vor zwei Tagen gebracht hatte. Lillian ergriff sie, ohne zu wissen, daß sie es tat, und schüttete sie in das knochige Gesicht. Sie wollte nur eins: diese harte, unerträgliche Stimme zum Schweigen bringen. Die Blumen waren schon welk und hingen im Haar und auf den Schultern der Schwester, als sei sie einem Tümpel entstiegen.
Die Frau wischte sich das Wasser aus den Augen. »Das werden Sie büßen!« zischte sie.
»Ich weiß«, erwiderte Lillian. »Schicken Sie mir die Rechnung für den Coiffeur, für das Kleid sicherlich auch, wahrscheinlich auch für Ihre Schuhe, Ihr Unterzeug, Ihr ferneres Leben und Ihre erschreckte, gusseiserne Seele! Und nun gehen Sie endlich!«
Die Schwester entschwand. Lillian blickte auf die Glasschale, die sie noch in der Hand hielt. Sie hatte nicht gewußt, daß sie zu solchen Gewaltakten fähig sei. Gott sei Dank, daß ich die Schale nicht mitgeworfen habe, dachte sie und begann plötzlich zu lachen und konnte nicht aufhören, und dann kamen die Tränen, und mit den Tränen kam endlich die Erlösung von der Starre.
Der Portier hielt sie in der Halle an. »Eine peinliche Sache, Madame.«
»Was denn noch?«
»Sie haben mich beauftragt, einen Sarg und eine Grabstelle auf dem Friedhof zu bestellen. Die Schwester von Herrn Clerfayt hat sofort bei ihrem Eintreffen auf Kosten der Autofirma ebenfalls einen Sarg bestellt und liefern lassen. Jetzt ist der Ihrige übrig.«
»Können Sie ihn nicht zurückgeben?«
»Der Vertreter der Firma in Nizza erklärt, der Sarg sei eine Spezialbestellung gewesen. Er könnte ihn zurücknehmen, aus Gefälligkeit, aber nicht zum selben Preis.«
Lillian blickte ihn hilflos an. Ein groteskes Bild stand plötzlich vor ihr — daß sie mit einem leeren Sarg in irgendein Sanatorium im Gebirge zurückfahren würde, während die Schwester Clerfayts die zerstückelten Reste in einem zweiten Sarg in ein Familienbegräbnis entführte.
»Ich habe der Dame vorgeschlagen, Ihren Sarg für Herrn Clerfayt zu nehmen«, sagte der Portier. »Sie wollte es nicht. Die Dame ist sehr strikt. Sie läßt auch ihre Hotelkosten der Autofirma in Rechnung stellen. Volle Pension natürlich, und gestern abend zwei Flaschen Chвteau Lafite 1929. Der beste Wein, den wir haben. Der Vertreter der Sargfirma würde den Sarg zurücknehmen für den halben Preis.«
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