»Du verstehst endlich, was ich will.«
»Ja, ich verstehe es«, erwiderte sie und lächelte.
»Du wirst mich heiraten?«
Er spürte ihr Zögern nicht. »Ja«, sagte sie. Auch das war jetzt gleich.
Er starrte sie an. »Wann?«
»Wann du willst. Im Herbst.«
Er schwieg einen Augenblick. »Endlich!« sagte er dann. »Endlich! Du wirst es nie bereuen, Lillian!«
»Ich weiß es.«
Er war mit einem Schlage verwandelt. »Du bist müde! Du mußt todmüde sein! Was haben wir nur gemacht? Du mußt schlafen, Lillian! Komm, ich bringe dich hinauf.«
»Und du?«
»Ich werde dem Engländer folgen und später die Straßen abfahren, bevor der Verkehr beginnt. Es ist nur Routine, ich kenne die Strecke.« Er stand an ihrer Tür. »Ich Idiot! Ich habe mehr als die Hälfte von dem verloren, was ich gewonnen hatte! Aus Wut!«
»Ich habe gewonnen.«
Lillian warf die Tasche mit den Jetons auf den Tisch.
»Ich habe sie nicht gezählt.«
»Wir werden morgen wieder gewinnen. Gehst du mit mir zum Arzt?«
»Ja. Jetzt muß ich schlafen.«
»Schlaf bis zum Abend. Dann essen wir etwas und gehen wieder schlafen. Ich liebe dich unendlich!«
»Ich dich auch, Clerfayt.«
Er schloß die Tür behutsam hinter sich. Zum ersten Mal wie bei einer Kranken, dachte sie und setzte sich erschöpft aufs Bett.
Das Fenster stand offen. Sie sah ihn zum Strand hinuntergehen. Nach dem Rennen, dachte sie. Ich werde packen müssen und nach dem Rennen wegfahren, wenn er nach Rom muß. Noch die paar Tage, dachte sie. Sie wußte nicht, wohin sie fahren sollte. Es war auch gleichgültig. Sie mußte nur fort.
Die Strecke war nur etwas über drei Kilometer lang, aber sie führte durch die Straßen Monte Carlos, mitten durch die Stadt, um den Hafen herum, über den Kasinoberg und zurück. Sie war an vielen Stellen kaum breit genug zum Überholen und bestand fast nur aus Kurven, Doppelkurven, Haarnadelkurven und Spitzkehren. Hundert Runden mußten gefahren werden, über dreihundert Kilometer, das hieß viele zehntausend Male Schalten, Bremsen, Anfahren, Schalten und wieder Bremsen und Anfahren.
»Ein Karussell«, sagte Clerfayt lachend zu Lillian.
»Eine Art von Zirkusakrobatik. Nirgendwo kann man die Karre auch nur halb ausfahren. Wo sitzt du?«
»Auf der Tribüne. Zehnte Reihe rechts.«
»Es wird heiß sein. Hast du einen Hut?«
»Ja.« Lillian zeigte einen kleinen Strohhut vor, den sie in der Hand hielt.
»Gut. Heute abend werden wir im Pavillon d'Or am Meer Langusten essen und kühlen Wein trinken. Und morgen fahren wir zu einem Bekannten von mir; er ist Architekt und soll uns einen Plan machen, das Haus umzubauen. Hell, mit großen Fenstern und viel Sonne.«
Der Rennleiter rief Clerfayt etwas auf italienisch zu. »Es geht los«, sagte Clerfayt und knöpfte seinen weißen Overall am Hals zu. Er holte ein Stück Holz aus der Tasche und klopfte es gegen den Wagen und gegen seine Hand.
»Fertig?« schrie der Rennleiter.
»Fertig.«
Lillian küßte Clerfayt und vollführte das Ritual des Aberglaubens. Sie spuckte den Wagen und Clerfayts Rennanzug leicht an und murmelte den Fluch, der das Gegenteil herbeiführen sollte; dann hob sie die Hand mit zwei gespreizten Fingern gegen die Bahn und die anderen Boxen — es war die Jettatore-Beschwörung gegen den bösen Blick. Die italienischen Monteure sahen sie in stummer Anbetung an, als sie an ihnen vorbeiging. Hinter sich hörte sie den Rennleiter bereits beten: »O du süßes Blut Jesu und du, Mutter der Schmerzen, hilf Clerfayt und Frigerio und —«
Sie drehte sich an der Tür um. Die Frauen von Marchetti und zwei anderen Fahrern hockten bereits mit Stoppuhren und Papieren an ihren Plätzen. Ich sollte ihn nicht verlassen, dachte sie und hob die Hand. Clerfayt lachte und salutierte. Er sah sehr jung aus. »Und ihr, alle Heiligen, verbrennt die Reifen der Konkurrenz etwa doppelt so schnell als die unseren!« betete der Rennleiter und schrie dann: »Fertig zum Start! Alles raus, was nicht hierher gehört!«
* * *
Zwanzig Wagen starteten. Clerfayt lag in der ersten Runde an achter Stelle; er hatte keinen sehr günstigen Platz gehabt und war beim Anfahren einen Augenblick zu langsam gewesen. Er hängte sich hinter Micotti, von dem er wußte, daß er angreifen würde. Frigerio, Monti und Sacchetti lagen vor ihnen; Marchetti hielt die Spitze.
In der vierten Runde schoß Micotti auf der Geraden, die zum Kasino anstieg, mit überdrehtem Motor an Sacchetti vorbei. Clerfayt hing an seinen Hinterrädern, er forcierte den Motor ebenfalls und passierte Sacchetti knapp vor dem Tunnel. Als er herauskam, sah er Micottis Wagen qualmen und langsamer werden. Er überholte ihn und begann, Monti zu jagen. Drei Runden später in der Haarnadelkurve am Gasometer bekam er Anschluss an ihn und hängte sich wie ein Terrier an seine Hinterräder.
Noch zweiundneunzig Runden und siebzehn Konkurrenten, dachte er, als er einen zweiten Wagen neben dem Micottis am Lager halten sah. Der Rennleiter signalisierte ihm, einstweilen nicht anzugreifen; wahrscheinlich lieferten sich Frigerio und Marchetti, die sich nicht liebten, eine Schlacht unter sich auf Kosten der Firma, anstatt im Team Disziplin zu halten, und der Rennleiter wollte Clerfayt und Meyer III in Reserve halten, falls die Spitzenfahrer ihre Wagen ruinier ten.
Lillian sah die Meute jedes Mal in weniger als zwei Minuten an den Tribünen vorüberrasen. Wenn man die Wagen gerade gesehen hatte und einen Moment beiseite blickte, waren sie schon wieder da, ein wenig unterschieden in der Platzierung, aber fast so, als wären sie nie weggewesen. Es war, als schöbe man nur die Glasplatte einer Camera mбgica hin und her, vor und zurück. Wie können sie nur die hundert Runden zählen? dachte sie. Dann erinnerte sie sich an den betenden, schwitzenden und fluchenden Rennleiter, der ihnen Schilder und Fahnen hinaushielt, die er nach einem Geheimcode schwenkte und auswechselte.
Nach vierzig Runden wollte sie gehen. Ihr war, als sollte sie jetzt, jetzt gleich abreisen, bevor das Rennen zu Ende war. Die Aussicht, noch weitere sechzig Male die geringen Verschiebungen im Felde zu sehen, kam ihr als eine ähnliche Zeitverschwendung vor wie die Stunden vor ihrer Abreise aus dem Sanatorium. Sie hatte ein Billett nach Zürich in der Tasche. Sie hatte es morgens gekauft, als Clerfayt noch einmal die Rennstrecke abging. Es war für den übernächsten Tag. Clerfayt mußte dann nach Rom fliegen. Er wollte zwei Tage später zurück sein. Das Flugzeug ging morgens; der Zug abends. Wie ein Dieb, dachte sie, wie ein Verräter schleiche ich mich weg. Ebenso wie ich mich im Sanatorium von Boris habe wegschleichen wollen. Sie hatte dann doch mit Boris sprechen müssen, aber was hatte es genützt? Immer wurden nur die falschen Worte gesagt, immer log man, denn die Wahrheit war eine unnütze Grausamkeit, und immer war das Ende Bitterkeit und Verzweiflung darüber, daß man nicht anders konnte und daß nun die letzte Erinnerung nur die an Streit, Missverständnis und Hass war. Sie suchte in der Tasche nach ihrem Fahrheft. Einen Augenblick glaubte sie es verloren zu haben. Dieser Augenblick genügte, um sie wieder fest zu machen. Sie fröstelte in der warmen Sonne. Ich habe Fieber, dachte sie und hörte die Menge um sich herum schreien. Unten am blauen Spielzeughafen mit den weißen Jachten, auf denen die Menschen dichtgedrängt standen, zog das Feld vorüber, und eines der kleinen Spielzeugautos schob sich seitlich und preßte sich an einem anderen vorbei. »Clerfayt!« jubelte eine dicke Dame neben ihr und klatschte sich mit dem Programm auf die prallen Schenkel unter dem Leinenkleid. »The son of a gun made it!«
* * *
Clerfayt hatte sich eine Stunde später bis zum zweiten Platz vorgearbeitet. Er jagte jetzt kalt und erbarmungslos Marchetti. Er wollte ihn noch nicht überholen — das hatte Zeit bis nach der achtzigsten Runde, ja bis zur neunzigsten — , er wollte ihn nur jagen, bis er nervös würde, ein paar Meter hinter ihm, immer im gleichen Abstand. Er wollte nicht noch einmal die Chance nehmen, seinen Motor zu überdrehen — er wollte das Marchetti tun lassen, und Marchetti tat es einmal, ohne daß ihm etwas an der Maschine passierte, aber Clerfayt spürte, daß er unruhig wurde, als er damit nichts erreichte. Marchetti begann jetzt, die Straße und die Kurven zu blockieren; er wollte Clerfayt nicht vorbeilassen. Clerfayt machte ein paar Mal ein Manöver, als wolle er überholen, ohne es wirklich zu versuchen; er erreichte damit, daß Marchetti schärfer auf ihn achtete als auf sein eigenes Fahren und unvorsichtig wurde. Sie hatten das Feld einmal überrundet und einige Fahrer mehrere Male. Der Rennleiter schwitzte und hielt Tafeln und Fahnen heraus. Er signalisierte Clerfayt, nicht anzugreifen. Marchetti gehörte zum eigenen Stall, und es hatte genügt, daß Frigerio und er sich gejagt hatten; Frigerio hatte dabei einen Reifendefekt gehabt und lag jetzt fast eine Minute hinter Clerfayt und fünf anderen Wagen. Clerfayt wurde von Monti gejagt, aber Monti hing noch nicht an seinen Rädern. Er konnte ihn leicht abschütteln in den Haarnadelkurven, die er schneller als Monti nahm.
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