Tag um Tag begrüßt die Morgendämmerung Meere, Berge, Regenwälder, die Pole oder Wüsten. Leuchtend und vielversprechend, denn sie weiß, dass seit Anbeginn der Zeit unzählige Geschöpfe auf ihre Ankunft warten.
Die Dämmerung vertreibt die Legionen ihres ewigen Feindes, der Nacht. Mit Ausnahme hinterhältiger Raubtiere, die im Dunkeln jagen, verabscheuen alle Wesen die Nacht und lieben die Wärme, das Leben und die Freude, die das Morgengrauen mit sich bringt.
Der Morgen, der am 25. März 1935 über der venezolanischen Savanne begann, brachte neue und wundersame Entdeckungen als Geschenk an die Welt mit.
Die Ouvertüre war das Zwitschern von Abermillionen von Vögeln.
Dann riss ein rötlicher Streifen den Horizont auf wie eine Unterschrift.
Ein blauer, fast durchsichtiger Himmel breitete sich aus und aus der Dunkelheit tauchten die fernen Tafelberge auf.
Tausend Meter unter den Tragflächen der Tiger verwandelte sich das monotone, milchige Grau in ein Meer von unzähligen Grüntönen.
Dann erkannte man einen wilden, rauschenden Fluss.
Und eine dunkle Lagune, die aussah wie ein riesiger von Smaragden umgebener Saphir.
Das Weiß der Reiher, das Rot der Ibisse und die glatt geschliffenen schwarzen Felsen unter den Stromschnellen wurden sichtbar.
Einen kurzen Augenblick lang fühlte sich der König der Lüfte wie der Herr über die ganze Welt.
Verzückt nahm er das herrliche Geschenk an, das die Morgendämmerung ihm darbot. Unbewusst dankte er dem Herrn für das überwältigende Schauspiel und auch dafür, dass er ihm erlaubt hatte, zu fliegen und dieses Wunder zu erleben. Er überprüfte seine Position. Er war genau da, wo er sein wollte. Den Caroní zu Füßen und in der Ferne die wunderbare Lagune von Canaima mit dem Wasserfall El Sapo, dessen schäumende Gischt bis zum Himmel wirbelte.
Keinen einzigen Grad war er vom Kurs abgekommen. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Langsam tauchte die Sonne über dem Gipfel des Cerro Venado auf und im Südosten zeichneten sich die Umrisse des AuyanTepui ab. Er kniff die Augen zusammen. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Der leichte Morgendunst würde bald von den ersten Sonnenstrahlen vertrieben werden. Keine Spur von den üblichen dichten Wolken, die ihn so oft gezwungen hatten, umzukehren und das Weite zu suchen.
»Heute ist der Tag!«, rief er laut.
Er warf einen flüchtigen Blick auf die faszinierende Schönheit der Lagune von Canaima, drehte leicht nach Osten ab und flog den Carrao entlang, der ihn geradewegs zu den Felswänden des Tafelberges führen würde.
Eine starke Anspannung hatte ihn erfasst. Zwar hatte er bisher immer die Nerven behalten, sogar wenn seine Maschine plötzlich absackte oder er gezwungen war, unter höchster Gefahr eine Notlandung hinzulegen, doch jetzt konnte er sich kaum zusammennehmen.
Nervös rutschte er auf seinem Sitz hin und her, als säße er auf tausend Nadeln. Es war weder Angst noch Beklemmung, sondern eher eine Art Vorahnung, die ihn antrieb, der Maschine alles abzuverlangen, was sie draufhatte.
Doch selbst unter günstigsten Umständen erreichte seine Tiger nur eine Höchstgeschwindigkeit von hundertfünfzig Kilometern in der Stunde. Jimmie konnte nur beten, dass in den nächsten dreißig Minuten keine Wolke am Horizont auftauchte.
»Bleib so!«, rief er laut. »Bleib nur noch eine halbe Stunde so, wie du jetzt bist, damit ich endlich dein Gesicht erkennen kann!«
Er drehte scharf ab, nahm Kurs nach Nordwesten und gewann schnell an Höhe. Nach kurzer Zeit, die ihm jedoch wie eine Ewigkeit vorkam, war er über dem Tafelberg, der sich ihm dieses Mal von seiner besten Seite zeigte. Ein fast glatter Boden, der nur wenige Hindernisse aufwies. Braune und schwarze Erde, an manchen Stellen von der spärlichen Vegetation bedeckt, die in diesen Höhen überleben konnte.
Er überflog den Tepui von einem Ende zum anderen und versuchte, sich an irgendein Detail zu erinnern, das ihm vertraut war. Doch bald musste er sich eingestehen, dass es sinnlos war, an einem derart klaren Tag etwas wiedererkennen zu wollen, das er nur einmal, und obendrein von Wolken und Dunst verhüllt, gesehen hatte.
Er flog noch fünf Kilometer weiter und gerade als er abdrehen wollte, erkannte er plötzlich in aller Klarheit die schmale Schlucht, von der Pater Orozco berichtet hatte.
Die Teufelsschlucht!
Vor ihm lag also tatsächlich nicht ein einziger riesiger Tafelberg, sondern zwei, die nur von einer schmalen Sförmigen, fast bis zum Boden reichenden Schlucht voneinander getrennt waren.
Er flog geradewegs darauf zu und versuchte, ihre Breite abzuschätzen. Nach kurzer Berechnung kam er zu dem Schluss, dass sie genügend Platz bot, um ohne nennenswerte Gefahr hindurchzufliegen.
Der Morgen war ruhig, die Sicht grenzenlos. Es ging kaum Wind. Daher zögerte er keine Sekunde, geradewegs auf die Schlucht zuzufliegen und sich zwischen die senkrecht aufragenden Wände zu zwängen, die den majestätischen AuyanTepui von seinem kleineren, aber nicht minder imposanten Bruder ParanTepui trennten.
Zu beiden Seiten rasten die glatten Steilwände der Tepuis an ihm vorbei. In vollen Zügen kostete er den Geschwindigkeitsrausch aus. Dabei schrie er voller Begeisterung, als säße er in einer Achterbahn. Schließlich hob er die Maschine hoch, drehte nach links ab und flog in Richtung Savanne, während der ParanTepui langsam hinter ihm verschwand.
In diesem Augenblick entdeckte er ihn.
»Lieber Himmel!«, rief Jimmie.
Er hatte ihn gesehen.
Den Vater aller Flüsse!
Er war dermaßen erstaunt, verwirrt und erschrocken, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte.
»Mein Gott!« Mehr brachte er in diesem Moment nicht heraus.
Als hätte sich der Schöpfer höchstpersönlich an diesem Morgen auf die Erde begeben, um den Menschen zum ersten Mal zu zeigen, wie unnachahmlich er sein Werk vervollkommnet hatte.
Erst im letzten Augenblick, als die Wassertropfen schon auf die Windschutzscheibe spritzten und er gegen die glatte Felswand zu prallen drohte, reagierte Jimmie. Er riss die Maschine scharf nach rechts und raste im Sturzflug nach unten, selbst auf die Gefahr hin, die Tiger nicht mehr abfangen zu können und in den Baumwipfeln zu landen.
Als er wieder über der flachen Savanne war, nahm er Kurs nach Norden und drehte sich um, konnte jedoch nichts mehr erkennen.
Er atmete erleichtert auf, schüttelte heftig den Kopf, als versuche er, einen Albtraum zu verscheuchen, zog die Maschine hoch und flog in gerader Linie weiter, bis er sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Dann ließ er das, was er gerade erlebt hatte, noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren.
Irgendwo da hinten in der Teufelsschlucht wäre er um ein Haar im Schlund eines riesigen Wasserfalls gelandet, der von dem Tepui hinunterstürzte und so tief war wie kein anderer, den er je gesehen hatte.
Der Vater aller Flüsse!
Der Fluss, der einer uralten Sage nach im Himmel entsprang und stets von einem dichten Wolkenmeer verhüllt war.
Das war doch nicht möglich!
Nein! Undenkbar!
Es musste eine optische Täuschung gewesen sein, ein Traum oder gar Albtraum. Denn wie konnte es sein, dass dieser gewaltigste Wasserfall der Welt im zwanzigsten Jahrhundert noch nicht entdeckt worden war?
Jimmie drehte um, zog die Maschine höher und hielt Kurs auf die Schlucht, um genau darüber hinwegzufliegen.
Sein Herz schlug so heftig, dass er das Gefühl hatte, er würde im Cockpit hin- und hergeschaukelt.
Seine Hände zitterten.
Eiskalter Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper.
Der Gedanke, einer Fata Morgana zum Opfer zu fallen, versetzte ihn in Panik.
Es war einfach zu schön, um wahr zu sein.
Er rückte ein wenig nach rechts, um bessere Sicht zu haben, drosselte die Geschwindigkeit, während er gleichzeitig darauf achtete, nicht unter achtzig Stundenkilometer zu fallen, da er sonst schnell an Höhe verlieren würde, und überflog so langsam wie möglich die Schlucht.
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