»Cabeza de Vaca?«, fragte ihr Mann überrascht. »Cabeza de Vaca war doch der Spanier, der den Mississippi und den Grand Canyon entdeckte. Er hat mit den IguaçuWasserfällen gar nichts zu tun.«
»Entschuldigen Sie vielmals, Herr von Schlaukopf«, fiel ihm seine Frau ins Wort und schüttelte heftig den Kopf, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Schon möglich, dass Eure Exzellenz der König der Lüfte ist, aber von den Dingen auf der Erde habt Ihr wirklich keine Ahnung. Álvaro Núñez Cabeza de Vaca war nicht nur der erste Europäer, der den gesamten nordamerikanischen Kontinent zu Fuß überquert hat, von einer Küste zur anderen, und dabei unzählige Entdeckungen gemacht hat, sondern er wurde Jahre später auch zum Gouverneur von Paraguay ernannt. Auf einer seiner zahlreichen Expeditionen stieß er auf die Wasserfälle von Iguaçu.«
»Donnerwetter! Ist das wahr?« Als seine Frau nur schweigend nickte, gestand Jimmie: »Das habe ich nicht gewusst.«
»Die Spanier von damals hatten noch Mumm. Ich weiß es, weil meine Großmutter mütterlicherseits Spanierin war und mir viel über ihre Vorfahren erzählt hat.« Sie lächelte. »Und falls es dir ein Trost ist, kann ich dir auch sagen, dass Cabeza de Vaca keiner seiner vielen Entdeckungen seinen Namen gab.«
»Warum nicht?«
»Weil die spanischen Entdecker das normalerweise nicht taten. Es gibt keine Wasserfälle, die nach Cabeza de Vaca benannt sind, und auch keine einzige Stadt, die Francisco Pizarro oder Hernán Cortés heißt.«
»Dafür aber ein ganzes Meer«, hielt ihr Mann dagegen.
»Den Namen gab man ihm erst viel später, als Hernán Cortés schon lange tot war. Die wahren Entdecker respektierten die Namen, die ihnen von den Einheimischen gegeben worden waren, oder tauften Städte und Landschaften nach den Heiligen ihres eigenen Landes oder ihren Königen. Niemals aber nach sich selbst.«
»Das habe ich nicht gewusst.«
»Tja, aber so ist es. Franzosen, Engländer und die Deutschen scheinen geradezu versessen darauf, Inseln, Berge oder Städte nach ihren Entdeckern zu nennen. Spanier oder Lateinamerikaner tun das im Allgemeinen nur selten.«
»Und worauf führst du das zurück?«, wollte ihr Mann wissen. »Weil sie zu bescheiden sind?«
»Eher wohl zu missgünstig«, erklärte Mary Angel. »Wenn du diesem Wasserfall deinen Namen gibst, werden die meisten Menschen auf der Welt das richtig finden. Du hast ihn entdeckt, also verdienst du, dass man ihn nach dir benennt. Die Lateinamerikaner aber werden daran Anstoß nehmen. Weil sie missgünstig sind. Und wenn ich mir deinen Namen ansehe, so fürchte ich, dass der Wasserfall mit der Zeit nicht Salto Jimmie Angel heißen wird, sondern nur Salto Angel, um deinen Ruhm in Grenzen zu halten.«
Eine Weile breitete sich Stille aus, als dächte der Pilot über das soeben Gehörte nach. Schließlich sagte er niedergeschlagen: »Das ist traurig.«
»Ja«, gab sie zu. »Aber im Grunde genommen müssen wir froh sein, dass es so ist.«
»Warum?«
»Hätten die Spanier damals, als sie die Welt beherrschten, zusammengehalten und sich gegenseitig geholfen, statt sich aus Habgier und Neid gegenseitig zu bekämpfen, gäbe es heute eine Supermacht, die sich von Alaska bis Feuerland erstrecken und in der man nur eine Sprache sprechen würde: Spanisch.«
»Du kannst einen wirklich überraschen«, antwortete Jimmie ohne jede Ironie. »Immer wieder versetzt du mich in Staunen. Ich hätte niemals gedacht, dass du dich für solche Dinge interessierst.«
»Was glaubst du eigentlich, was ich tue, wenn du zwei oder drei Tage hintereinander wegbleibst?«, fragte seine Frau. »Ich lese, lerne Spanisch und informiere mich über die Geschichte und die Bräuche der Leute hier. Ich versuche herauszufinden, warum sie in so vieler Hinsicht anders denken als wir…« Sie machte eine ausholende Bewegung, die alles, was sie umgab, einschloss. »Die Hausarbeit erledigt sich quasi von selbst«, fuhr sie fort. »Und wenn ich nicht den Verstand verlieren will, weil ich ständig an all die Dinge denken muss, die dir zustoßen könnten, muss ich den Geist beschäftigen.«
»Und wirst du mich eines Tages an all dem, was du gelernt hast, teilhaben lassen?«, fragte Jimmie.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ein alter Papagei das Sprechen nicht mehr lernt, wie man hier zu sagen pflegt. Deine Aufgabe ist es, dich auf diese Diamantenader zu konzentrieren — wenn du sie nämlich nicht bald findest, geraten wir in Teufels Küche. Jeder Flugtag kostet uns ein Vermögen.«
»Ich weiß«, räumte Jimmie schuldbewusst ein. »Ich habe mir gedacht, dass ich ein wenig dazuverdienen könnte, indem ich Interessierte zu den Wasserfällen fliege.«
»Einzeln?«, fragte sie spöttisch. »Komm schon, Liebling, fang nicht wieder an zu träumen. Vielleicht wäre das bei einer Maschine mit vier oder fünf Plätzen rentabel, aber deine Tiger Moth verbraucht mehr Sprit, als du mit einem Passagier jemals einbringen könntest. Und was, wenn du zu dem Tepui kommst und man wegen der dichten Wolkenwand nichts sehen kann? Wirst du den Leuten dann das Geld zurückgeben?«
»Verdammtes Geld!«, rief Jimmie ärgerlich. »Immer scheitert alles daran! Wir stehen vor den Toren zum Ruhm, weil wir das letzte Naturwunder auf der Erde entdeckt haben, und vor den Toren des Wohlstands, weil wir theoretisch eine gesamte Diamantenmine besitzen, und du kannst dir seit Monaten nicht mal ein Paar anständige Schuhe leisten.« Jimmie stieg aus der Hängematte und ging einige Schritte auf die Brüstung zu. Er sah auf den dunklen Fluss, der unter dem sternenübersäten Himmel nur ein schwarzer Fleck war, und fragte: »Was meinst du? Wäre es nicht besser, wenn wir das Ganze vergessen und nach Hause zurückkehren?«
»Unser Zuhause ist jetzt hier«, entgegnete seine Frau schlicht. »Wir haben uns dieses Leben zusammen ausgesucht. Möglich, dass du diese Diamanten niemals finden wirst, aber es ist deine Pflicht, danach zu suchen. Du tust das für dich, für mich, für Dick Curry, John McCracken und sogar für All Williams.«
Doch der Regen ließ einfach nicht nach.
Offenbar wollte das Jahr als das regenreichste aller Zeiten in die an Regen nicht gerade arme Geschichte des venezolanischen Guayana eingehen. Die Tage verstrichen in nervenaufreibender Monotonie. Man konnte nicht viel anderes tun als lesen, reden, fischen und Karten spielen.
An einem stürmischen Nachmittag, als der Himmel von grellen Blitzen zerrissen wurde, tauchte plötzlich der Spanier Félix Cardona in einem grünen Regenumhang und einem breiten durchnässten Hut auf, wie ein Gespenst, das den dunklen Fluten des Orinoco entstiegen war.
»Bekomme ich einen Kaffee bei Ihnen?«, fragte er. Als sie ihm einen Platz anboten, setzte er sich hin, zündete eine Zigarette an und sah Jimmie an. »Stimmt es, dass Sie den Vater aller Flüsse gesehen haben?«
»Ja, das stimmt.«
»Und ist er wirklich so beeindruckend, wie man sich erzählt?«
»Beeindruckender, als man sich je würde träumen lassen.«
»Genau das habe ich befürchtet«, erklärte der Spanier. »Na schön«, fuhr er fort. »Zugegeben, zuerst habe ich mich geärgert, weil ich selbst diese Entdeckung machen wollte. Aber ich gestehe, dass ich schon zu alt bin, um monatelang durch diesen gottverlassenen Dschungel zu marschieren, noch dazu auf die Gefahr hin, erneut zu scheitern. Soweit ich gehört habe, liegt der Wasserfall in der Teufelsschlucht. Der Ort ist so unzugänglich, dass ich selbst niemals dort gesucht hätte.« Er seufzte resigniert. »Deshalb bin ich eigentlich doch froh, dass Sie ihn gefunden haben. So habe ich wenigstens die Gewissheit, dass ich mein Leben nicht vergeudet habe auf der Suche nach etwas, das es gar nicht gibt…« Er nippte an dem vorzüglichen Kaffee, den Mary zubereitet hatte, und sah Jimmie über seine Tasse hinweg an. »Was brauchen Sie?«
Читать дальше