»Es ist nicht gut, ständig mit dem Tod zu leben«, bemerkte seine Frau nachdenklich.
Zwei Tage später startete Jimmie zu einem Aufklärungsflug, den er bis ins kleinste Detail geplant hatte: über das unbekannte und wilde Gebiet südlich des Orinoco und östlich des Caroní.
Sein neuer, mit einem leistungsstarken Motor bestens ausgerüsteter Doppeldecker war in der Lage, eine Last von zweihundert Kilogramm zu transportieren. Die Tiger Moth war robust, äußerst zuverlässig und bot ihm ein Höchstmaß an Sicherheit, sodass er nun riskieren konnte, an den unzugänglichsten Orten zu landen. Zudem vergrößerte sie durch ihre beträchtliche Reichweite seinen Aktionsradius.
Nur selten begleitete Mary ihn auf seinen gefährlichen Erkundungsflügen. Meistens blieb sie im Hotel und wartete ungeduldig darauf, dass die unverwechselbare gelbe Silhouette am blauen Himmel auftauchte und sanft auf der nahe gelegenen Flugpiste aufsetzte.
Eines Abends, als sie nach dem Essen im geräumigen Speisesaal saßen, dessen Fenster nach Norden gingen, trat ein Mann an ihren Tisch.
»Guten Abend, mein Name ist Félix Cardona«, stellte er sich vor. »Dürfte ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen?«
»Aber gern«, antwortete Jimmie liebenswürdig. »Ich habe eine Menge von Ihnen gehört. Félix Cardona, der berühmte spanische Pilot.«
»Nicht halb so berühmt wie ein gewisser Jimmie Angel«, gab Cardona das Kompliment zurück. »Stimmt es, was man sich erzählt? Dass Sie vor Jahren auf McCrackens Heiligem Berg gelandet sind?«
»Ja, das stimmt.«
»Und dass Sie den Berg jetzt wieder suchen?«
»In der Tat.«
»Haben Sie Neuigkeiten von McCracken?«
»Nur, dass er vor zwei Jahren gestorben ist.«
»Das tut mir Leid. Er war ein großartiger Mann. Hier wird er wie ein Mythos verehrt.«
»Ja, er hat mir seine Mine vermacht.«
»Verstehe. Das ist ja auch einleuchtend. Brauchen Sie Hilfe?«
»Welche Art von Hilfe?«
»Jede Art«, antwortete der Spanier freimütig. »Vor sechs Jahren sind Juan Mundó und ich auf dem Caroní bis zum Fuß des AuyanTepui vorgedrungen, den viele für den Heiligen Berg halten. Wir haben versucht, die Steilwand hinaufzuklettern, aber es war schier unmöglich. Später haben wir die gesamte Umgebung in einem Umkreis von dreihundert Meilen erforscht.«
»Ja, ich habe von Ihrer Erkundungsreise gehört. Alle Achtung. Eine außerordentliche Leistung.«
»In aller Bescheidenheit möchte ich behaupten, dass Mundó und ich die Gegend so gut kennen wie kein anderer. Deshalb bin ich gekommen, um Ihnen eine Zusammenarbeit anzubieten.«
»Und welche Gegenleistung erwarten Sie dafür?«
»Gar keine. Die pemones, waicas und guaharibos sind fest davon überzeugt, dass sich in dieser Gegend der Vater aller Flüsse befindet, der einer alten Legende zufolge im Himmel entspringt, und dass dort auch Aucayma liegt, der Heilige Tafelberg, auf dessen Gipfel es Gold und Diamanten geben soll. Mich interessiert dieser Fluss, nicht der Berg oder seine Schätze.«
»McCracken hat mir erzählt, dass man den nächsten Vollmond nicht erlebt, wenn man diesen Fluss erblickt. Sein Kamerad All Williams jedenfalls starb wenige Tage, nachdem er ihn gesehen hatte.«
»Ich weiß. Ich habe sein Grab gesehen.«
»Ich auch.«
»Trotzdem glaube ich nicht an Legenden. Ich bin davon überzeugt, dass der Fluss an einem gewaltigen Wasserfall entspringt, aber dass ein Fluch auf diesem Wasserfall lastet, ist Unsinn.«
»Was also wollen Sie? Mit mir kommen, um den Wasserfall zu finden?«
Cardona nickte. »Mehr oder weniger. Sie helfen mir, den Wasserfall zu suchen, und ich helfe Ihnen, Ihren Berg zu finden.«
»Das scheint ein faires Angebot«, räumte Jimmie ein. »Ihr Fluss gegen meinen Berg. Ich werde mir die Sache überlegen.«
»Ich glaube, dass er Wort hält.«
»Dann wirst du also darauf eingehen?«, fragte Mary, als sie um Mitternacht auf der Balustrade des Hotels die frische Brise genossen. »Nimmst du ihn mit?«
»Er gilt als Ehrenmann und ich würde ihm gern helfen, seinen Fluss zu finden«, erklärte Jimmie seiner Frau und zog bedächtig an der alten Pfeife, von der er sich nicht trennen konnte. »Ich weiß, dass er einem Traum nachjagt, genau wie ich, aber ich will mich nicht für einen anderen verantwortlich fühlen. Sollte dieser Berg eines Tages in naher Zukunft, wenn wir am wenigsten damit rechnen, tatsächlich seinen Dunstschleier abwerfen, muss ich in wenigen Augenblicken entscheiden, ob ich darauf landen will oder nicht. Ich kenne diesen Berg. Er weiß genau, wie er sich vor neugierigen Blicken schützen kann.« Er wandte sich zur Seite und warf seiner Frau, die in ihrem Schaukelstuhl wippte, einen Blick zu. »Jedenfalls will ich nicht, dass ausgerechnet in diesem Augenblick das Leben eines Fremden von meiner Entscheidung abhängt. Auf keinen Fall!«, schloss er bestimmt. »Diese Sache ist etwas, das nur mich betrifft.«
»Und mich«, erinnerte ihn seine Frau.
»Und dich natürlich«, pflichtete ihr der König der Lüfte bei. »Aber du weißt, warum wir hergekommen sind. Du hast es akzeptiert und mir sogar Mut gemacht, weil du weißt, wie viel es mir bedeutet.« Liebevoll küsste er ihre Hand. »Wir haben einen Pakt geschlossen. Wenn ich dabei umkomme, hast du versprochen, nicht traurig zu sein, weil ich auf die Art gestorben sein werde, die ich mir immer gewünscht habe, im Cockpit meiner Maschine. Aber wenn ich umkomme und einen Unschuldigen mit in den Tod ziehe, werden weder ich noch du damit glücklich sein.«
»Ich muss verrückt gewesen sein, als ich mich darauf eingelassen habe!«, jammerte sie. »Vollkommen verrückt.«
»Nein!«, widersprach der Pilot. »Verrückt wärst du gewesen, wenn du mich daran gehindert hättest, das Leben so zu leben, wie ich es leben will, obwohl du mich liebst. Dass du dich darauf eingelassen hast, war kein Wahnsinn, sondern der größte Liebesbeweis, den du mir erbringen konntest.«
Sie schwiegen und starrten auf die unzähligen Sterne, die in dieser Nacht besonders nah wirkten. Nach einer Weile murmelte sie mit einem Hauch von Bitterkeit in der Stimme: »Wenn du wüsstest, wie eifersüchtig ich gelegentlich auf den Tod bin! Mir ist klar, dass er dich anzieht und du ständig mit ihm flirtest. Und auch, dass er früher oder später die Oberhand gewinnen wird. Trotzdem kann ich ihn nicht als denjenigen hassen, der allem ein Ende setzt. Für mich ist er so etwas wie ein Rivale, der schlauer sein will als ich.«
»Der Tod behält immer die Oberhand.«
»Nicht wenn man im hohen Alter stirbt. Wenn man im Bett vom Tod überrascht wird, muss man sich seinem Willen beugen, das ja. Aber wenn er dich vom Himmel holt, noch ehe deine Stunde geschlagen hat, dann wird er mich besiegt haben.«
»Ich bin ein guter Pilot und seit wir uns kennen, gehe ich keine unnötigen Risiken mehr ein. Ich verspreche dir, besonders vorsichtig zu sein.«
»Na schön!«
Am nächsten Morgen startete Jimmie erneut auf der Suche nach seinem Berg.
Ebenso am übernächsten.
Und am überübernächsten.
So vergingen Tage, Wochen und Monate.
Schließlich war ein ganzes Jahr um.
Weder Regen noch Stürme, weder Flaute noch Hitze oder Kälte konnten ihn vom Fliegen abhalten. Als das Geld allmählich zur Neige ging, zogen sie aus dem Hotel in ein winziges Häuschen direkt neben dem Fluss, das auf Pfählen gebaut war.
Eines Morgens, als Jimmie über eine weite trockene Ebene der Gran Sabana flog, entdeckte er einen groß gewachsenen Mann, der ohne Eile durch die endlose Weite marschierte. Als er das Flugzeug hörte, sah er auf und winkte freundlich.
Irgendetwas kam Jimmie an ihm bekannt vor und bewog ihn zu landen. Als er aus der Maschine kletterte, stand plötzlich der bärtige Pater Benjamin Orozco vor ihm und grinste.
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