Welcher vergessene Konquistador hatte vier Jahrhunderte zuvor dieses Gebiet zu Fuß durchwandert und dabei Entfernungen zurückgelegt, die uns noch heute unglaublich erscheinen?
Und ebenso würde eines Tages, in diesem oder im nächsten Jahrhundert, ein hartnäckiger Goldsucher auf dem Gipfel eines vergessenen Tepui Currys alten Revolver finden.
Oder am Fuß einer tausend Meter hohen Felswand die Knochen eines Mannes, der abgestürzt war, als er glaubte, dem sagenhaften Schatz von John McCracken schon dicht auf der Spur zu sein.
Vielleicht war es auch ein vergifteter Pfeil oder ein hungriger Jaguar, der diesem Leben voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft ein jähes Ende bereitet hatte.
Niemand wird es je erfahren.
Weder die Geschichte noch die Legende, ja nicht einmal ein Raunen in diesem Landstrich, dessen wenige Bewohner sich von Gerüchten über sagenhafte Gold- und Diamantenvorkommen ernährten, gaben Aufschluss darüber, welches Schicksal dem merkwürdigen Amerikaner zuteil geworden war. An einem schwülen Morgen hatte er sich von der freundlichen Witwe eines anderen offenbar ähnlich Verrückten verabschiedet, um sich entschlossen dem fernen Süden zuzuwenden, wo die Träume wohnen.
Der Dschungel, die von der brütenden Sonne versengte Savanne, Einsamkeit, Hunger, Fieber und Wahnsinn bilden eine feste Allianz, an der selbst der Wille der verwegensten Männer zerbricht. Und sollte all dies nicht ausreichen, gesellen sich Schlangen, Menschenfresser, Banditen und schließlich die gefürchteten Vampirfledermäuse dazu, die den Menschen Nacht für Nacht das Blut aus den Adern saugen und den Körper so lange schwächen, bis er völlig ermattet.
Südlich des unergründlichen Orinoco ist alles möglich.
Heute ziehen Düsenflugzeuge und sogar unzählige Satelliten ihre Bahnen über das wilde Land südlich des mächtigen Orinoco, doch nach wie vor ist alles, was sich auf seinem Boden befindet, ein ungelüftetes Geheimnis.
Südlich des Orinoco hat ein Mensch zu Fuß keinerlei Überlebenschance.
Curry wollte das nicht wahrhaben und bezahlte für seinen Leichtsinn mit dem Leben.
Diese Tatsache lastete schwer auf Jimmies Gewissen, denn letztendlich konnte er zeit seines Lebens den Gedanken nicht abschütteln, seinen unschuldigen Freund mit der schrecklichen Krankheit angesteckt zu haben.
Zwei Jahre nach ihrem Abschied kam er zurück, um ihn zu suchen.
Jetzt flog er eine prächtige, brandneue gelbe De Havilland Tiger Moth, ein Nachfolgermodell der alten Gipsy Moth. Das Geld dafür hatte er sich mit Nitroglyzerintransporten verdient, das dazu verwendet wurde, brennende Ölquellen zu löschen.
Mary, seine neue, schlanke, sehr attraktive und zugleich abenteuerlustige Frau begleitete ihn. Sie war fest davon überzeugt, dass der Mann, den sie geheiratet hatte, sich eines Tages einen Namen in der Geschichte der Luftfahrt machen würde.
Sie schlugen ihr Hauptlager in Ciudad Bolívar auf. Kaum hatte der König der Lüfte seine Frau in einem malerischen Hotel mit Blick auf den Fluss und einer hübschen, offenen Balustrade abgesetzt, machte er sich zum nahe gelegenen Puerto Ordaz auf, in der Hoffnung, eine Spur oder einen Hinweis zu finden, die über das Schicksal seines besten Freundes Aufschluss geben könnten.
»Keine Ahnung, Señor«, antwortete die alte Witwe traurig. »Ich habe alle, die aus dem Süden zurückgekommen sind, gefragt, aber niemand hat ihn gesehen. Die böse Hexe hat ihn verschlungen, Señor, ganz bestimmt!«
»Hat er nichts hinterlassen? Keine Karte, keine Notizen?«
»Nur ein paar Bücher und Kleidungsstücke. Er hat den ganzen Tag gelesen und studiert. Er war ein wirklich feiner Mann, Señor. Ein richtiger Gentleman. Ich war sehr traurig, als er verschwunden ist, weil es von seiner Sorte nicht mehr viele gibt.«
»Darf ich mir das, was er hier zurückgelassen hat, einmal ansehen?«
»Sie können es mitnehmen, wenn Sie wollen. Ich weiß von Ihrer Freundschaft. Er hat mir viel von Ihnen und der Zeit, die Sie zusammen da unten im Süden verbracht haben, erzählt.« Die arme Frau schüttelte kummervoll den Kopf. »Es muss die schönste Zeit seines Lebens gewesen sein. Er war ein guter Mann, Señor, aber traurig. Ja, das war er, gutherzig und traurig.«
Jimmie wollte der alten Frau ein Bündel Scheine in die Hand drücken, doch sie weigerte sich, das Geld anzunehmen. Schließlich verließ er die bescheidene Behausung mit einem abgewetzten Koffer in der Hand, in dem sich die letzten Habseligkeiten des ehemaligen Rennfahrers aus Detroit befanden.
Drei Tage lang studierte er die zerfledderten Hefte, die Curry in einem völlig unverständlichen Spanisch vollgekritzelt hatte. Und entdeckte die geheimsten Gedanken eines Menschen, der sich in diesem entlegenen fremden Land sehr einsam gefühlt haben musste.
Ich liebe dieses Land, obwohl ich weiß, dass es mich umbringen wird; so wie ich Ketty liebte, obwohl ich wusste, dass sie mich am Ende verlassen würde. Warum fühle ich mich von allem, was mich zerstört, so krankhaft angezogen?
An einer anderen Stelle ein fast unleserlicher Eintrag. Eine merkwürdige, wenn auch plausible Vorahnung.
Wer wird mein Grab schaufeln? Wer meinen Namen auf das Kreuz schreiben?
O Jimmie! Ich weiß, dass ich auf dich warten sollte, aber ich kann nicht! Dein Berg ruft nach mir .
Zum ersten Mal seit Jahren musste Jimmie weinen.
Er saß auf der Balustrade des alten, im Kolonialstil gebauten Hotels und erinnerte sich an die Nacht, als sie an den Ufern des unbändigen Flusses mit seinem dunklen Wasser zu Abend gegessen hatten. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er daran dachte, wie sein Freund ihm in jener Nacht seine unerklärliche Leidenschaft für das Land gestanden hatte, in dem sie erst ein paar Stunden zuvor gelandet waren.
In der Hitze und Feuchtigkeit am Mittag hasse ich dieses Land. Aber wenn es Abend wird, versöhnen mich der malvenfarbene Himmel und sein unendlicher Frieden, so wie Ketty und ich uns versöhnten, wenn wir im Dunkel der Nacht miteinander schliefen .
»Ich hätte ihn niemals allein lassen dürfen«, murmelte Jimmie vor sich hin. »Und ich hätte nicht allein nach Hause zurückkehren dürfen. Er muss sich vorgekommen sein wie der einsamste Mensch auf der Welt.«
Mary versuchte, ihn zu trösten. Immer wieder erklärte sie ihm, dass Curry ein erwachsener Mensch war, der vollständig bei Sinnen und aus freien Stücken beschlossen hatte, zu bleiben. Er hatte sich sein Schicksal selbst ausgesucht und vielleicht war es gar nicht so dramatisch, wie man annehmen musste.
»Wer weiß, ob er nicht beschlossen hat, für immer im Dschungel zu bleiben? Vielleicht lebt er mittlerweile mit einer hübschen Eingeborenen, die ihm ein paar Kinder geschenkt hat, in einer gemütlichen Lehmhütte? Vielleicht hat er beschlossen, nach Brasilien auszuwandern, und genießt jetzt irgendwo am Strand von Río de Janeiro die Sonne?« Sie nahm seine Hand und drückte sie zärtlich. »Und schlimmstenfalls, woher weißt du, ob er nicht tatsächlich fündig geworden ist und beschlossen hat, nicht mit dir zu teilen?«
»Das hätte Dick niemals getan.«
»Das weiß man nie«, erwiderte Mary und lächelte. »Der Buchhalter meiner Firma war ein netter Mann, verheiratet, mit drei Kindern, und trotzdem ist er eines Tages mit einer Chorsängerin und neunzigtausend Dollar aus der Kasse durchgebrannt. Sie suchen heute noch nach ihm.«
»Dick würde so etwas nicht tun. Er ist tot.«
»Woher weißt du das?«
Der König der Lüfte deutete mit dem Kinn auf die über den ganzen Tisch verstreuten Hefte.
»Aus seinen Notizen.«
»Wo steht es geschrieben?«
»Auf jedem Blatt und auf keinem.« Jetzt war es Jimmie, der die Hand seiner Frau nahm und zärtlich streichelte. »Ich weiß, du kannst das nicht verstehen, aber wenn man miterlebt, wie die meisten Freunde um einen herum plötzlich verschwinden, entwickelt man ein besonderes Gespür, einen sechsten Sinn, wenn es um den Tod geht. Drüben in Frankreich haben wir immer gewusst, ob ein Pilot abgeschossen worden war oder nur notlanden musste und wir ihn jeden Moment wieder sehen würden, erschöpft, zu Fuß, aber mit einem Lächeln auf den Lippen.«
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