Wenn Sie, Sir, jemals das Ende einer großen Liebesbeziehung durchgemacht haben, werden Sie vielleicht verstehen, was ich damals empfand. In solchen Situationen gibt es gemeinhin einen Augenblick der Leidenschaft, in dem das Undenkbare gesagt wird; dem folgt ein Gefühl der Euphorie, endlich frei zu sein, die Welt erscheint frisch, als sähe man sie zum ersten Mal; dann kommt die unvermeidliche Phase des Zweifelns, der Reue, des verzweifelten und aussichtslosen Zurückruderns, und erst später, wenn die Emotionen nachgelassen haben, kann man die Reise, die man hinter sich gebracht hat, mit Gleichmut betrachten. Bei mir kamen Zweifel und Reue recht schnell, was – nach meiner Erfahrung mit unserer Spezies – häufig geschieht, und als ich in die U-Bahn stieg, um mich bei Underwood Samson zum Dienst zu melden, befand ich mich in einem Schockzustand ähnlich dem, der einen befällt, wenn man sich das Knie schlimm verdreht hat, aber noch keinen Schmerz spürt.
Nicht dass ich überzeugt war, einen Fehler begangen zu haben; nein, ich war lediglich nicht überzeugt davon, keinen begangen zu haben. Mit anderen Worten, ich war verwirrt. Dennoch nötigte mich mein Stolz, mir die unerwartete Trauer möglichst nicht anmerken zu lassen. Ich gestattete meinem Blick nicht, auf dem eindrucksvollen Empfangsraum zu verweilen – der mich jetzt eher an die schimmernde Fassade eines erhabenen und exklusiven Tempels erinnerte –, oder auf der spektakulären Aussicht aus unseren Fenstern, ich gestattete mir nicht, eine Schachtel mit meinen Visitenkarten einzustecken, dem elegant gedruckten Beweis dafür, dass ich einstmals unter Hunderten ausgewählt worden war, hier sein zu dürfen. Ich ließ mich einfach von den beiden Sicherheitsleuten dirigieren, die links und rechts von mir standen und zusahen, wie ich eine begrenzte Menge eindeutig persönlicher Besitztümer in einen kleinen Pappkarton packte, und mich dann zur Personalabteilung zu meinem Entlassungsgespräch begleiteten.
Das war überraschend kurz – hart, beängstigend förmlich, jedoch ohne gegenseitige Vorwürfe –, und als die erforderlichen Formulare unterzeichnet und die Daten der leistungsrelevanten Merkmale beisammen waren, sagte man mir, Jim wolle mich noch sprechen. Er trug einen dunklen Anzug und eine dunkle Krawatte – Trauerkleidung, wie ich fand –, und er sah aus, als hätte er zu wenig geschlafen. »Da haben Sie uns ja ganz schön angeschissen, mein Junge«, sagte er. »Ja, stimmt«, antwortete ich. »Es tut mir leid.« »Ich halte nicht sehr viel von Mitgefühl am Arbeitsplatz«, fuhr er fort. »Ich habe keinen Augenblick gezögert, Sie zu feuern. Ja, ich wünschte, ich hätte es schon vor einem Monat getan und uns die Kopfschmerzen erspart, die Sie uns in Valparaiso bereitet haben. Aber«, er machte eine Pause, »ich sage Ihnen auch Folgendes. Ich mag Sie, Changez. Ich verstehe, dass Sie in einer Krise stecken. Sollten Sie je einen Menschen brauchen, bei dem Sie sich etwas von der Seele reden wollen, dann rufen Sie mich an, und wir trinken ein Bier zusammen.« Ich bekam einen Kloß in den Hals; ich konnte nicht antworten. Ich nickte langsam, eine Geste, die einer Verbeugung nicht unähnlich war.
Nachdem ich Jims Büro verlassen hatte, wurde ich zu den Fahrstühlen geleitet. Ich merkte, wie tief das Misstrauen war, das ich während dieser wenigen vergangenen, von Bart und Groll geprägten Wochen bei meinen Kollegen geweckt hatte; nur Wainwright kam, um mir die Hand zu schütteln und sich zu verabschieden, die anderen betrachteten mich, wenn überhaupt, mit offenkundiger Beklommenheit und, in manchen Fällen, einer Furcht, die eher angebracht gewesen wäre, wenn ich wegen eines Mordkomplotts gegen sie verurteilt worden wäre und nicht nur in einem laufenden Projekt meinen Posten verlassen hätte. Die Wachleute wichen mir erst von der Seite, als ich außerhalb des Gebäudes war, und erst da gestattete ich mir, mir mit dem Handrücken über die Augen zu wischen, denn sie hatten ein wenig getränt.
Sie müssen bedenken, dass ich erst zweiundzwanzig und dies meine erste richtige Arbeit gewesen war; in einem solchen Alter und einer solchen Lage haben Ereignisse ein emotionales Echo, das vielleicht übertrieben ist. Jedenfalls war mir, als wäre eine Welt untergegangen – was ja auch so war, und ich ging zu Fuß zum East Village. Es war vermutlich ein ziemlich merkwürdiger Anblick – ein aufgewühlter, behaarter Pakistani, der einen unbeschrifteten Karton mitten durch Manhattan trug –, aber ich erinnere mich nicht, böse Kommentare von Passanten gehört zu haben. Ich war allerdings auch zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um sie zu bemerken.
In meiner Wohnung goss ich mir einen Whiskey ein und saß gedankenverloren da. Es war noch früh – noch nicht Mittag –, also beschloss ich, meine Familie anzurufen. Mein Bruder ging dran. Er habe das Geld erhalten, das ich ihm geschickt hatte, sagte er, und die Atbeiter hätten schon unsere verrotteten Röhren freigelegt. Bis morgen sollten sie ersetzt sein. Ich sagte ihm, ich hätte mich entschieden, nach Lahore zurückzukommen. Er versuchte, mich davon abzubringen, die Spannungen mit Indien nähmen zu. Er sei unlängst in Islamabad gewesen, sagte er, Frauen und Kinder von ausländischen Botschaftsangehörigen und Mitarbeitern von NGOs verließen schon das Land. Ich erklärte ihm, ich hätte keine Wahl; »Sie haben mich gefeuert«, sagte ich, »und bald wird mein Visum ungültig.« Er sagte, natürlich werde die Familie sich um mich kümmern. Ich sagte nicht, dass ich gehofft hätte, ich würde derjenige sein, der sich um sie kümmerte, und nachdem wir aufgelegt hatten, trank ich noch eine Weile weiter.
Aber Ihr Glas, Sir, ist nun schon seit geraumer Zeit leer. Soll ich die Rechnung kommen lassen? Ein kurzer Wink reicht, sehen Sie, da kommt er schon. Wie viel, fragen Sie? Da machen Sie sich mal keine Sorgen; Sie sind hier mein Gast, das – es ist ja nur ein kleiner Betrag – übernehme ich. Sie möchten die Hälfte bezahlen? Auf gar keinen Fall, außerdem bezahlen wir hier alles oder nichts. Sie haben mich daran erinnert, wie fremdartig ich das Konzept fand, dass Bekannte sich eine Rechnung teilen, als ich noch neu in Ihrem Land war. Ich bin dazu erzogen worden, in solchen Dingen gegenseitige Großzügigkeit über mathematische Präzision zu stellen; mit der Zeit gelangt man bei beidem zu einem ausgewogenen Verhältnis.
Allerdings hatte man mich nicht in der Etikette unterwiesen, wie man am besten mit einer Geliebten in Kontakt tritt, die sich in eine Heilanstalt zurückgezogen hat, und so schwankte ich, ob ich Erica eine Mail schreiben oder sie persönlich besuchen sollte. Schließlich wurde mir die Entscheidung abgenommen. Ich schickte ihr eine Mail, doch sie kam zurück mit dem Vermerk, sie könne nicht gesendet werden, weil der Posteingang voll sei, also mietete ich mir ein Auto und erschien unangemeldet in dem Heim. Am Empfang sagte man mir, Besucher ohne Einladung seien nicht willkommen – man könne mir nicht einmal bestätigen, ob Erica überhaupt da sei –, doch gerade als man mich auffordern wollte zu gehen, sah ich die Schwester, die ich bei meinem früheren Besuch kennengelernt hatte, und bat sie, ein gutes Wort für mich einzulegen.
»Ich rede mit ihm«, sagte sie zu der Frau am Empfang und nahm mich beiseite. Sie wirkte verstört und meinte, ich solle mich setzen. »Was wissen Sie?«, fragte sie mich. »Was ich weiß?«, fragte ich. »Worüber?« »Es tut mir sehr leid«, sagte sie. »Erica ist nicht mehr da.« Ich fragte sie, was genau sie mit nicht mehr da meine, und die Schwester erklärte es mir. Erica war zwei Wochen zuvor verschwunden, und zwar kurz nachdem ich sie zuletzt gesehen hatte. Sie war anfangs nicht gern allein gewesen im Heim und hatte Stunden mit den Schwestern, den Beratern und den anderen Patientinnen verbracht, besonders aber mit der Schwester, mit der ich jetzt sprach. Doch gegen Ende ihres Aufenthalts war sie immer häufiger ohne Begleitung umhergestreift, bis sie eines Tages fortgegangen und nicht mehr zurückgekommen war. Man hatte ihre Kleider dann auf einem Felsvorsprung mit Blick über den Hudson gefunden, säuberlich zusammengelegt und übereinandergestapelt.
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