Jahrzehnte unzureichender Einkünfte hatten sie gelehrt, mit Bedacht zu investieren. Von ihrer Ausbeute zweigte sie den Betrag ihres ursprünglichen Einsatzes ab. Die Hälfte von jedem weiteren Gewinn legte sie ebenfalls auf die hohe Kante.
Ihre Geldvorräte zeigten jedoch keinerlei Anzeichen von Erschöpfung.
«So, mir reicht's jetzt», sagte Sylvia Roth nach fast einer Stunde und tippte Enid auf die Schulter. «Wollen wir uns das Streichquartett anhören?»
«Ja! Ja! Es ist im Krieg-Saal.»
«Grieg», sagte Sylvia und lachte.
«Ach, das ist ja lustig. Grieg. Ich bin so töricht heute Abend.»
«Wie viel haben Sie gewonnen? Sah ganz so aus, als hätten Sie Glück gehabt.»
«Keine Ahnung, ich hab nicht mitgezählt.»
Sylvia lächelte und schaute sie aufmerksam an. «Von wegen. Ich glaube, Sie haben genau mitgezählt.»
«Na ja, stimmt schon», sagte Enid und errötete, weil Sylvia ihr so sympathisch war. «Es waren einhundertdreißig Dollar.»
Ein Porträt Edvard Griegs hing in einem über und über mit Gold geschmückten Raum, der die Pracht des schwedischen Königshofs im achtzehnten Jahrhundert heraufbeschwor. Die große Zahl leerer Stühle bestätigte Enids Verdacht, dass viele der Kreuzfahrtteilnehmer einfache Leute waren. Sie hatte schon Kreuzfahrten erlebt, auf denen es bei klassischen Konzerten nur Stehplätze gab.
Sylvia schien nicht gerade überwältigt von den Musikern, doch Enid fand sie wunderbar. Sie spielten beliebte klassische Melodien wie die «Schwedische Rhapsodie» und Auszüge aus Finlandia und Peer Gynt — alles auswendig. Mitten in Peer Gynt wurde der zweite Geiger ganz grün im Gesicht und verließ für eine Minute den Raum (das Meer war wirklich ein bisschen stürmisch, aber Enid hatte einen robusten Magen und Sylvia ein Pflaster), und dann kehrte er an seinen Platz zurück und schaffte es sofort, als hätte er nicht einen Takt versäumt, an der richtigen Stelle wieder einzusetzen. «Bravo!», riefen die zwanzig Zuhörer.
Bei dem eleganten Empfang im Anschluss gab Enid 7,7 Prozent ihres Spielgewinns für eine Kassette aus, die das Quartett hatte aufnehmen lassen. Sie probierte ein Gratisglas Spögg, einen schwedischen Likör, dem gerade eine 15 Millionen Dollar teure Werbekampagne zuteil wurde. Spögg schmeckte wie Wodka, Zucker und Meerrettich, und das waren auch tatsächlich seine Ingredienzien. Während die anderen Gäste den Spögg eher überrascht und missvergnügt beäugten,
begannen Enid und Sylvia sofort zu kichern.
«Kleine Aufmerksamkeit des Hauses», sagte Sylvia. «Kostenloser Spögg. Probieren Sie!»
«Hmm!», sagte Enid prustend, halb tot vor Lachen. «Spögg!»
Weiter ging es zur Ibsen-Promenade, wo für zweiundzwanzig Uhr geselliges Eisessen angesetzt war. Im Fahrstuhl hatte Enid das Gefühl, dass das Schiff nicht nur an einem ständigen Auf und Nieder, sondern auch an einer Schräglage litt, als wäre sein Bug das Gesicht eines Menschen, der Widerwillen empfand. Kaum hatte sie den Fahrstuhl verlassen, stolperte sie beinahe über einen Mann auf Händen und Knien, der aussah wie die Hälfte eines Zwei-Mann-Sketches, bei dem einer den anderen umschubst. Hinten auf seinem T-Shirt stand: SIE VERLIEREN NUR IHR ZIEL AUS DEN AUGEN.
Enid nahm dankend ein Eiscremesoda, das eine Serviererin mit Toque ihr anbot. Dann fing sie an, mit Sylvia Familiendaten auszutauschen, was schon bald mehr ein Austausch von Fragen denn von Antworten war. Sobald Enid merkte, dass jemand auf das Thema Familie nicht mit Begeisterung ansprach, pflegte sie unerbittlich in der Wunde herumzustochern. Eher wäre sie gestorben, als zuzugeben, dass ihre eigenen Kinder sie enttäuschten, doch von den enttäuschenden Kindern anderer zu hören — ihren schmutzigen Scheidungen, ihrem Rauschgiftmissbrauch, ihren törichten Investitionen — , das tat ihr gut.
Vordergründig gab es nichts, wofür Sylvia Roth sich hätte schämen müssen. Ihre beiden Söhne lebten in Kalifornien, einer hatte mit Medizin, der andere mit Computern zu tun, und beide waren verheiratet. Dennoch schienen sie glühend heißer Gesprächssand zu sein, den es entweder zu meiden oder im Spurt zu überqueren galt. «Ihre Tochter war in Swarthmore?», sagte sie.
«Ja, kurz», sagte Enid. «Aha, und fünf Enkelsöhne. Alle Achtung. Wie alt ist der jüngste?»
«Ist letzten Monat zwei geworden. Und wie steht's bei Ihnen?», sagte Sylvia. «Haben Sie Enkelkinder?»
«Unser ältester Sohn Gary hat drei Jungs, also, das ist ja interessant, fünf Jahre Abstand zwischen dem jüngsten und dem zweitjüngsten?»
«Fast sechs sogar, aber von Ihrem Sohn in New York, von dem möchte ich auch etwas hören. Haben Sie ihn heute besucht?»
«Ja, er hat ein so nettes Mittagessen für uns zubereitet, aber sein Büro beim Wall Street Journal, wo er neuerdings arbeitet, haben wir uns nicht angeschaut, weil das Wetter so schlecht war, na ja, also, und fliegen Sie oft rüber nach Kalifornien? Um Ihre Enkelsöhne zu sehen?»
Irgendein Lebensgeist, die Bereitschaft, das Spiel weiter mitzuspielen, verließ Sylvia. Sie saß da und starrte in ihr leeres Sodaglas. «Enid, würden Sie mir einen Gefallen tun?», sagte sie schließlich. «Begleiten Sie mich auf einen Schlummertrunk nach oben.»
Enids Tag hatte um fünf Uhr morgens in St. Jude begonnen, doch eine attraktive Einladung schlug sie niemals aus. Oben im Lagerkvist-Schankraum wurden sie und Sylvia von einem Zwerg mit gehörntem Helm und Lederwams bedient, der sie überredete, Brombeeraquavit zu bestellen.
«Ich möchte Ihnen etwas erzählen», sagte Sylvia, «weil ich es irgendeinem auf dem Schiff erzählen muss, aber Sie dürfen es keinem verraten. Können Sie das, Geheimnisse für sich behalten?»
«Oh, darin bin ich gut.»
«Na schön», sagte Sylvia. «In drei Tagen findet in Pennsylvania eine Hinrichtung statt. Und zwei Tage später, am Donnerstag, feiern Ted und ich unseren vierzigsten Hochzeitstag. Und wenn Sie Ted fragen, wird er Ihnen sagen, dass wir deshalb die Kreuzfahrt machen, wegen des Hochzeitstags. Das wird er sagen, aber es ist nicht die Wahrheit. Oder nur seine Wahrheit und nicht meine.»
Enid wurde angst.
«Der Mann, der hingerichtet wird», sagte Sylvia Roth, «hat unsere Tochter umgebracht.»
«Nein.»
Die blaue Klarheit ihres Blick ließ Sylvia wie ein wunderschönes, sanftes Tier aussehen, aber eben auch nicht ganz menschlich. «Ted und ich», sagte sie, «sind hier, weil wir mit dieser Hinrichtung ein Problem haben. Wir haben miteinander ein Problem.»
«Nein! Was erzählen Sie mir da?» Enid schauderte. «Oh, ich will das nicht hören! Ich ertrage das nicht!»
Sylvia nahm diese allergische Reaktion auf ihre Eröffnung gelassen hin. «Es tut mir Leid», sagte sie. «Es ist nicht fair von mir, Sie so zu überfallen. Vielleicht sollten wir jetzt schlafen gehen.»
Doch Enid hatte sich schnell gefasst. Sie wollte die Chance, Sylvias Vertraute zu werden, auf keinen Fall verpassen. «Erzählen Sie mir alles, was Sie mir erzählen möchten», sagte sie. «Und ich werde zuhören.» Sie faltete die Hände im Schoß wie eine gute Zuhörerin. «Fangen Sie an. Ich höre.»
«Also, das andere, was ich Ihnen erzählen muss, ist, dass ich Schusswaffenkünstlerin bin», sagte Sylvia. «Ich zeichne Waffen. Wollen Sie das alles wirklich wissen?»
«Selbstverständlich.» Enid nickte so eifrig wie unbestimmt. Der Zwerg, fiel ihr auf, benutzte eine kleine Leiter, um Flaschen herunterzuholen. «Interessant.»
Viele Jahre lang, erzählte Sylvia, sei sie Amateurgraphikerin gewesen. Sie hatte ein sonnendurchflutetes Atelier in ihrem Haus in Chadds Ford, sie hatte einen seidenglatten Lithographiestein und ein zwanzigteiliges Set deutscher Holzschnittmeißel, und sie gehörte einem Künstlerverein in Wilmington an, auf dessen Halbjahresausstellungen sie, während ihr jüngstes Kind Jordan von einem Wildfang zu einer unabhängigen jungen Frau heranwuchs, dekorative Drucke zu Preisen von um die vierzig Dollar verkaufte. Dann wurde Jordan ermordet, und Sylvia druckte, zeichnete und malte fünf Jahre lang nichts als Schusswaffen. Jahraus, jahrein nur Schusswaffen.
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