«Norweger sind sagenhaft langweilig», flüsterte Mr. Söderblad Enid heiser ins Ohr.
Die beiden anderen «Flottierer» am Tisch, ein gepflegtes älteres Ehepaar namens Roth aus Chadds Ford, Pennsylvania, hatten Enid instinktiv den Gefallen getan, Alfred in ein Gespräch zu ziehen. Von der heißen Suppe, dem Theater mit seinem Löffel und vielleicht auch von der Anstrengung, nicht einen einzigen Blick auf das betörende Söderblad'sche Dekolleté zu werfen, war Alfreds Gesicht gerötet, während er den Roths die Stabilisierungstechnik eines Ozeandampfers erklärte. Mr. Roth, ein gescheit dreinschauender Mann mit Fliege und einer Hornbrille, die seine Augen hervorquellen ließ, löcherte ihn mit anspruchsvollen Fragen und lauschte den Antworten mit derart gespannter Aufmerksamkeit, dass er beinahe erschüttert wirkte.
Mrs. Roth achtete weniger auf Alfred als auf Enid. Sie war eine kleine Frau, ein niedliches Kind von Mitte sechzig. Mit den Ellbogen erreichte sie kaum die Tischplatte. Sie hatte einen weiß gefleckten schwarzen Pagenkopf, rosige Wangen und große blaue Augen, mit denen sie Enid unverhohlen anstarrte, wie jemand, der sehr klug oder sehr dumm ist. Solches Schwärmen ließ auf Sehnsüchte schließen. Enid spürte auf der Stelle, dass Mrs. Roth auf dieser Kreuzfahrt entweder ihre beste Freundin oder ihre schlimmste Rivalin werden würde, und so vermied sie es nicht ohne Koketterie, sie anzusprechen oder ihre Anwesenheit auf andere Weise zur Kenntnis zu nehmen. Während Steaks aufgetischt und verwüstete Hummer abgetragen wurden, platzierte Enid ein ums andere Mal und Mr. Söderblad parierte ein ums andere Mal Fragen nach seinem Beruf, der etwas mit Waffenhandel zu tun zu haben schien. Mrs. Roths blauäugigen Blick saugte sie ebenso begierig auf wie den Neid, den die «Flottierer» an anderen Tischen hervorrufen mussten. Sie vermutete, dass sich die «Flottierer» in den Augen des T-Shirt-Plebs ausgesprochen kontinental ausnahmen. Ein Hauch von Adel. Schönheit, Krawatten, ein Plastron. Ein gewisses Prestige.
«Manchmal freue ich mich so auf meinen Morgenkaffee», sagte Mr. Söderblad, «dass ich abends gar nicht einschlafen kann.»
Enids Hoffnung, dass Alfred mit ihr im Pippi-Langstrumpf-Ballsaal tanzen werde, zerschellte, als er aufstand und verkündete, er gehe jetzt ins Bett. Es war noch nicht einmal sieben. Wer hatte je von einem Erwachsenen gehört, der um sieben Uhr abends zu Bett ging?
«Setz dich wieder hin und warte auf den Nachtisch», sagte sie. «Die Nachtische sollen göttlich sein.»
Alfreds unansehnlich gewordene Serviette rutschte von seinen Schenkeln auf den Boden. Er schien überhaupt nicht zu ahnen, wie sehr er sie in Verlegenheit brachte und enttäuschte. «Bleib du ruhig hier», sagte er. «Ich habe genug.»
Und schon schlurfte er über den S0ren-Kierkegaard-Teppich davon, mit den Schieflagen der Horizontale kämpfend, die stärker geworden waren, seit das Schiff den New Yorker Hafen verlassen hatte. Wohlbekannte Wellen des Grams dämpften Enids Stimmung, als sie an all das Vergnügen dachte, das ihr mit einem solchen Ehemann entging, bis ihr klar wurde, dass sie nun einen langen Abend für sich hatte und kein Alfred ihr das Vergnügen verderben konnte.
Ihre Laune hellte sich auf, und hellte sich weiter auf, als Mr. Roth sich verabschiedete, um in den Knut-Hamsun-Lesesaal zu gehen, und seine Frau am Tisch zurückließ. Mrs. Roth rückte näher an Enid heran.
«Wir Norweger sind große Leser», bemerkte Mrs. Nygren, die Gelegenheit beim Schöpfe packend.
«Und große Quasselstrippen», murmelte Mr. Söderblad.
«Öffentliche Büchereien und Buchläden in Oslo haben enormen Zulauf», teilte Mrs. Nygren der Runde mit. «Ich glaube, das ist nicht überall so. Das Lesen ist weltweit im Niedergang begriffen. Aber nicht in Norwegen, hm. Mein Per liest in diesem Herbst das Gesamtwerk von John Galsworthy zum zweiten Mal. Auf Englisch.»
«Neiiiin, Inga, nein», wieherte Per Nygren. «Zum dritten Mal!»
«Großer Gott», sagte Mr. Söderblad.
«Wirklich.» Mrs. Nygren schaute Enid und Mrs. Roth an, als erwarte sie Ehrfurcht. «Per liest jedes Jahr von allen bisherigen Literaturnobelpreisträgern ein Buch und außerdem das Gesamtwerk des Preisträgers, den er im Vorjahr am besten fand. Und sehen Sie, die Aufgabe wird von Jahr zu Jahr ein bisschen schwieriger, weil ja immer ein weiterer Preisträger hinzukommt, nicht wahr.»
«Es ist ein wenig wie beim Hochsprung — die Latte wird immer höher gelegt», erklärte Per. «Jedes Jahr eine etwas größere Herausforderung.»
Mr. Söderblad, der nach Enids Zählung seine achte Tasse Kaffee trank, lehnte sich dicht zu ihr herüber und sagte: «Mein Gott, sind die langweilig!»
«Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass ich weit mehr von Henrik Pontoppidan gelesen habe als die meisten anderen», sagte Per Nygren.
Mrs. Söderblad legte den Kopf schief und lächelte verträumt. «Wissen Sie», sagte sie, vielleicht zu Enid oder zu Mrs. Roth, «dass Norwegen bis vor einhundert Jahren eine schwedische Kolonie war?»
Die Norweger gingen hoch wie ein aufgescheuchtes Bienenvolk.
«Kolonie!? Kolonie??»
«Oh, oh», zischte Inga Nygren, «ich glaube, da gibt es eine Geschichte, die wir unseren amerikanischen Freunden nicht vorenthalten wollen.»
«Eine Geschichte strategischer Bündnisse!», erklärte Per.
«Wenn Sie ‹Kolonie› sagen, welches schwedische Wort haben Sie da genau im Sinn, Mrs. Söderblad? Da mein Englisch offenkundig um einiges besser ist als das Ihre, kann ich unseren amerikanischen Freunden vielleicht eine treffendere Übersetzung liefern, zum Beispiel ‹gleichberechtigte Partner in einem vereinigten Halbinsel-Königreich›»
«Signe», sagte Mr. Söderblad boshaft zu seiner Frau, «ich glaube, da hast du einen Nerv getroffen.» Er hob eine Hand. «Ober, nachschenken.»
«Wenn man das späte neunte Jahrhundert als Ausgangspunkt nimmt», sagte Per Nygren, «und ich denke, sogar unsere schwedischen Freunde werden mir zustimmen, dass die Thronbesteigung von Harald Schönhaar eine ganz brauchbare ‹Startrampe› für unsere Untersuchung der wechselhaften Beziehungen zweier konkurrierender Großmächte ist, oder sollte ich vielleicht sagen, dreier Großmächte, denn auch Dänemark spielt in unserer Geschichte eine recht faszinierende Rolle — »
«Wir würden das sehr gern hören, aber vielleicht ein andermal», unterbrach ihn Mrs. Roth und beugte sich vor, um Enids Hand zu berühren. «Wir hatten doch sieben Uhr gesagt, erinnern Sie sich?»
Enid stutzte nur kurz. Dann entschuldigte sie sich und folgte Mrs. Roth in die Haupthalle, wo sie es mit einem Gewühl von Senioren und einer Wolke gastrischer sowie keimtötender Aromen zu tun bekamen.
«Enid, ich heiße Sylvia», sagte Mrs. Roth. «Was halten Sie von Spielautomaten? Mich juckt's schon den ganzen Tag.»
«Oh, mich auch!», sagte Enid. «Ich glaube, die sind im Springberg-Saal.»
«Strindberg, ja.»
Enid bewunderte geistige Beweglichkeit, schrieb sich aber selten selbst welche zu. «Danke für die — na Sie wissen schon», sagte sie, als sie Sylvia Roth durch das Gewühl folgte.
«Rettung. Keine Ursache.»
Der Strindberg-Saal war rappelvoll mit Kiebitzen, kleinen Blackjackspielern und Freunden des einarmigen Banditen. Enid konnte sich nicht erinnern, wann ihr zuletzt etwas so viel Vergnügen gemacht hatte. Der fünfte Vierteldollar, den sie einwarf, bescherte ihr drei Pflaumen; als bringe so viel Obst die Verdauung der Maschine durcheinander, kam unten Hartgeld herausgeschossen. Enid schaufelte den Gewinn in einen Plastikeimer. Elf Vierteldollarmünzen später passierte es erneut: drei Kirschen, silberner Durchfall. Weißhaarige Spieler, die an benachbarten Spielautomaten unentwegt verloren, schauten böse zu ihr herüber. Ich schäme mich, sagte sie sich, dabei stimmte das gar nicht.
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