«Brian und sein Vater sind mit den Mädchen zum Phillies-Spiel gegangen», sagte Robin. «Die kommen vollgestopft mit Stadion-Futter nach Hause. Also, warum nicht. Wir können essen gehen.»
«Ich habe noch ein paar Sachen in meiner Küche», sagte Denise. «Wäre Ihnen das recht?»
«Was auch immer. Egal.»
Normalerweise schätzte sich jeder, der von einem Profikoch zum Essen eingeladen wurde, glücklich und zeigte das auch. Robin jedoch schien entschlossen, sich unbeeindruckt zu geben.
Es war Nacht geworden. Die Luft in der Catharine Street roch nach letztem Baseball-Wochenende. Während sie Richtung Osten gingen, erzählte Robin Denise die Geschichte ihres Bruders Billy. Denise hatte diese Geschichte schon von Brian gehört, aber Teile von Robins Version waren neu für sie.
«Moment mal», sagte sie. «Brian hat seine Software an die W — Corporation verkauft, dann hat Billy einen der W — Direktoren k. o. geschlagen, und Sie glauben, es gibt da einen Zusammenhang?»
«Gott, ja», sagte Robin. «Das ist doch das Furchtbare.»
«Davon hat Brian gar nichts erzählt.»
Da schrillte es aus Robin hervor: «Ich glaub es nicht! Das ist doch der springende Punkt! Herrgott nochmal! Es sieht ihm dermaßen ähnlich, nichts davon zu sagen. Weil es die Sache für ihn nämlich richtig schwierig machen könnte, verstehen Sie, genauso schwierig wie für mich. Es könnte ihm den Spaß verderben, wenn er nach Paris reist oder mit Harvey Keitel zu Mittag isst oder weiß der Geier was tut. Ich fass es nicht, dass er nichts davon gesagt hat.»
«Erklären Sie mir, was das Problem ist?»
«Rick Flamburg ist für den Rest seines Lebens behindert», sagte Robin. «Mein Bruder sitzt die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre im Gefängnis, diese schreckliche Firma richtet die städtischen Schulen zugrunde, mein Vater pumpt sich mit Psychopharmaka voll, und Brian sagt, hey, guck doch mal, was W — gerade für uns getan hat, komm, lass uns nach Mendocino umziehen!»
«Aber Sie persönlich haben nichts Böses getan», sagte Denise. «Sie sind für nichts davon verantwortlich.»
Robin drehte sich zur Seite und sah ihr ins Gesicht. «Wozu leben wir?»
«Ich weiß es nicht.»
«Ich auch nicht. Aber ich bezweifle, dass es ums Gewinnen geht.»
Schweigend liefen sie weiter. Denise, der Gewinnen durchaus wichtig war, stellte missmutig fest, dass Brian, zusätzlich zu all seinem anderen Glück, auch noch eine Frau mit Prinzipien und Charakter geheiratet hatte.
Was sie allerdings auch feststellte, war, dass Robin nicht sonderlich loyal zu sein schien.
Denise' Wohnzimmer hatte sich, seit Emile es drei Jahre zuvor leer geräumt hatte, kaum verändert. Damals, am Wochenende der Tränen, war Denise in ihrem Selbstverleugnungswettstreit doppelt im Vorteil gewesen, weil sie sich schuldiger fühlte als Emile und weil sie bereits eingewilligt hatte, das Haus zu behalten. Am Ende hatte sie Emile überredet, von ihrem gemeinsamen Besitz fast alles mitzunehmen, was ihr lieb und teuer war, und vieles andere mehr, das sie zwar nicht mochte, aber gut hätte gebrauchen können.
Die Leere des Hauses hatte Becky Hemerling abgestoßen. Es sei kalt, es drücke Selbsthass aus, es sei ein Kloster.
«Schön schlicht», bemerkte Robin.
Denise ließ sie an der halben Tischtennisplatte Platz nehmen, die ihr als Küchentisch diente, öffnete eine Fünfzig-Dollar-Flasche Wein und machte sich daran, Robin zu verköstigen. Mit ihrem Gewicht hatte sie selten kämpfen müssen, aber wenn sie so gegessen hätte wie Robin, wäre sie binnen eines Monats aus dem Leim gegangen. Ehrfürchtig sah sie zu, wie ihr Gast mit fliegenden Ellbogen zwei Nieren und eine selbst gemachte Wurst verschlang, jeden einzelnen Krautsalat probierte und Butter auf die dritte gesunde Scheibe Vollkornbrot strich.
Sie selbst hatte Schmetterlinge im Bauch und aß so gut wie nichts.
«St. Jude, aha. Judas Thaddäus ist einer meiner Lieblingsheiligen», sagte Robin. «Hat Brian Ihnen erzählt, dass ich in letzter Zeit viel in die Kirche gehe?»
«Ja, davon hat er gesprochen.»
«Das kann ich mir vorstellen. Bestimmt war er unheimlich verständnisvoll und tolerant!» Robins Stimme war laut, ihr Gesicht vom Wein gerötet. Denise spürte eine Beklemmung in ihrer Brust. «Egal, jedenfalls gehört das zu den Vorzügen des Katholischseins, dass einem solche Heiligen wie Judas Thaddäus zur Seite stehen.»
«Der Schutzheilige der hoffnungslosen Fälle?»
«Genau. Wofür ist die Kirche da, wenn nicht für aussichtslose Fälle?»
«Im Sport ist das auch so», sagte Denise. «Wer gewinnt, braucht keine Unterstützung.»
Robin nickte. «Sie verstehen, was ich meine. Aber wenn man mit Brian zusammenlebt, fängt man an zu glauben, dass mit Verlierern irgendwas nicht stimmt. Nicht, dass er einen kritisieren würde. Nein! Er ist immer verständnisvoll und geduldig und zärtlich. Brian ist klasse! Nichts gegen Brian! Nur dass er eben lieber einen Gewinner anfeuern würde. Und so ein Gewinner bin ich nun mal nicht. Und möchte es auch gar nicht sein.»
Nie hätte Denise so über Emile geredet. Selbst jetzt nicht.
«Aber Sie, Sie sind so ein Gewinner», sagte Robin. «Deshalb hab ich, offen gestanden, in Ihnen schon so was wie meinen Ersatz gesehen. Meine Nachfolgerin.»
«Nix da.»
Da waren sie wieder, Robins verlegen-erfreute Laute. Sie sagte: «Hi hi hü»
«Zu Brians Verteidigung — ich glaube nicht, dass Sie Brooke Astor sein müssen, um ihn zufriedenzustellen», sagte Denise. «Ich glaube, ein bisschen Bürgerlichkeit würde es auch tun.»
«Ich könnte damit leben, bürgerlich zu sein», sagte Robin. «So ein Haus wie das hier gefällt mir schon. Und ich find's klasse, dass Ihr Küchentisch eine halbe Tischtennisplatte ist.»
«Für zwanzig Mäuse gehört sie Ihnen.»
«Brian ist wunderbar. Er ist der Mensch, mit dem ich mein Leben verbringen wollte, er ist der Vater meiner Kinder. Ich bin diejenige, die nicht ins Programm passt. Ich bin diejenige, die zum Kommunionsunterricht geht. Sagen Sie, haben Sie vielleicht eine Jacke für mich? Mir ist eiskalt.»
Die niedrigen Kerzen tropften im Oktoberluftzug. Denise holte ihre Lieblingsjeansjacke, eine von Levi's mit wollenem Innenfutter, die es so nicht mehr zu kaufen gab, und sah sie Robins schmalere Schultern verschlingen, sah sie an ihren dünneren Armen schlackern wie die Sportjacke eines Ballspielers an dessen Freundin.
Am nächsten Tag, als sie die Jacke selbst trug, kam sie ihr weicher und leichter vor als sonst. Sie schlug den Kragen hoch und zog die Jacke mit beiden Händen eng um sich.
Einerlei, wie viel sie in diesem Herbst schuftete, sie hatte mehr Freiräume und flexiblere Arbeitszeiten, als sie es seit etlichen Jahren gewohnt war. Sie fing an, Selbstgekochtes im Projekt vorbeizubringen. Sie fuhr zu Brians und Robins Haus in der Panama Street, hörte, dass Brian fort war, und blieb den ganzen Abend dort. Ein paar Tage später backte sie mit den Mädchen Madeleines, und Brian, gerade nach Hause gekommen, benahm sich, als habe er sie schon hundertmal in seiner Küche angetroffen.
Als Nachzüglerin zu einer vierköpfigen Familie dazuzustoßen und von allen geliebt zu werden, darin hatte sie lebenslange Übung. Ihre nächste Eroberung in der Panama Street war Sinead, die Leseratte, das Modepüppchen. Samstags ging Denise mit ihr bummeln. Sie kaufte ihr modische Ketten und Armbänder, ein antikes toskanisches Schmuckkästchen, Disco- und Protodisco-Alben aus den Siebzigern, alte, reich bebilderte Bücher über Kostüme, die Antarktis, Jackie Kennedy und Schiffsbau. Sie half Sinead, größere, buntere, weniger wertvolle Geschenke für Erin auszusuchen. Sinead, wie ihr Vater, hatte untadeligen Geschmack. Sie trug schwarze Jeans und Cordminiröcke und Trägerkleidchen, silberne Armreifen und extralange Bänder aus Plastikperlen in ihrem ohnehin sehr langen Haar. Nach dem Einkaufen, in Denise' Küche, schälte sie feinsäuberlich Kartoffeln oder rollte einfachen Teig aus, während die Meisterköchin Leckerbissen für kindliche Gaumen ersann: Birnenstücke, Streifen hausgemachter Mortadella, Holunderbeersorbet in einem winzigen Schälchen Holunderbeersuppe, Lammfleischravioli, auf die sie mit leicht minzigem Olivenöl Kreuze malte, oder gebratene Polentawürfel.
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