«Du weißt doch, was er sagt. Mit Besichtigungstouren ist für ihn Schluss. Seine Beine machen das nicht mehr mit. Also, fahr du nur hin und erleb eine herrliche Zeit für mich. Grüß mir meine Lieblingsstadt! Und besuch auf jeden Fall Cindy Meisner. Sie und Klaus haben ein Chalet in Kitzbühel und eine riesengroße, elegante Wohnung in Wien.»
Für Enid war Österreich gleichbedeutend mit der «Blauen Donau» und «Edelweiß». Die Spieldosen in ihrem Wohnzimmer mit den Blumen- und Alpenintarsien hatte sie allesamt aus Wien. Enid erzählte gern, dass die Mutter ihrer Mutter «Wienerin» gewesen sei, weil das, ihrem Verständnis nach, ein Synonym für «Österreicherin» war, was für sie so viel hieß wie «aus Österreich-Ungarn stammend» — einem Reich, das zur Zeit der Geburt ihrer Großmutter Gebiete nördlich von Prag bis südlich von Sarajewo umfasste. Denise, die als Mädchen für Barbera Streisand in Yentl geschwärmt hatte und als Teenager eine Weile ganz im Bann von I. B. Singer und Scholem Alejchem gestanden hatte, war Enid eines Tages so lange auf die Nerven gegangen, bis sie zugegeben hatte, dass ihre Großmutter in Wirklichkeit Jüdin gewesen war. Was, wie Denise triumphierend geschlussfolgert hatte, sowohl sie als auch Enid, in direkter mütterlicher Linie, ebenfalls zu Jüdinnen machte. Doch Enid hatte schnell den Rückwärtsgang eingelegt und gesagt, nein, nein, ihre Großmutter sei Katholikin gewesen.
Denise hatte ein professionelles Interesse an gewissen Facetten der Kochkunst ihrer Urgroßmutter — an Rippchen und frischem Sauerkraut, an Stachelbeeren und Heidelbeeren, an Klößen, Forellen und Würsten. Die kulinarische Herausforderung lag darin, zierlichen 36er-Größen mitteleuropäische Herzhaftigkeit schmackhaft zu machen. All die Titan-Kreditkartenbesitzerinnen wollten keine dicken wagnerianischen Sauerbratenscheiben, keine handballgroßen Semmelknödel und keine alpinen Schlagsahneberge. Vielleicht aber würden sie Sauerkraut essen. Wenn das kein Gericht für Mädels mit Zahnstocherbeinen war: fettarm und geschmacksintensiv und vielseitig, bereit, mit Schwein, mit Gans, mit Huhn, mit Kastanien ins Bett zu hüpfen, bereit, den Sprung ins Ungewisse mit Makrelen-Sashimi oder geräuchertem Blaufisch zu wagen…
Sie kappte ihre letzten Verbindungen zum Mare Scuro und flog, als bezahlte Angestellte Brian Callahans und mit einer American-Express-Karte in der Tasche, über die sie unbegrenzt verfügen durfte, nach Frankfurt. In Deutschland fuhr sie mit 160 über die Autobahn, und trotzdem hingen ihr andere lichthupend auf der Stoßstange. In Wien suchte sie nach einem Wien, das es nicht gab. Nichts von dem, was sie aß, hätte sie nicht selbst besser zubereiten können; eines Abends probierte sie ein Wiener Schnitzel und dachte, tja, das ist also ein Wiener Schnitzel, m- hm. Ihre Vorstellung von Österreich war weitaus lebhafter als Österreich selbst. Sie ging ins Kunsthistorische Museum und ins Konzerthaus; sie warf sich vor, eine schlechte Touristin zu sein. Schließlich wurden ihre Langeweile und Einsamkeit so groß, dass sie Cindy Müller-Karltreu (geborene Meisner) anrief und sich in deren höhlenartiges «Nouveau Penthouse» mit Blick aufs Michaelertor zum Abendessen einladen ließ.
Cindy war um die Mitte herum füllig geworden und sah, wie Denise fand, erheblich schlechter aus als nötig. Ihre Gesichtszüge verschwanden hinter Grundierung, Rouge und Lippenstift. Ihre schwarze Seidenhose war an den Hüften weit und an den Knöcheln eng. Während sich bei der Begrüßung ihre Wangen streiften und Denise der Tränengasattacke von Cindys Parfüm standhielt, nahm sie überrascht bakteriellen Atem wahr.
Cindys Ehemann Klaus hatte schrankbreite Schultern, schmale Hüften und ein faszinierend winziges Gesäß. Das
Müller-Karltreu'sche Wohnzimmer, eine Häuserzeile lang, war mit barocken Zweisitzern und Biedermeierstühlen möbliert. An den Wänden hingen Soft-Bouguereaus oder Bouguereau-Verschnitte neben Klaus' olympischer Bronzemedaille, die, hinterlegt und gerahmt, unterhalb des größten Wandleuchters prangte.
«Was Sie hier sehen, ist nur eine Nachbildung», erklärte Klaus Denise. «Die Originalmedaille befindet sich in sicherer Verwahrung.»
Auf einer Anrichte, die entfernt an Jugendstil erinnerte, standen Teller mit Brotscheiben, zerkleinertem Räucherfisch von dosenthunfischähnlicher Konsistenz und einem nicht besonders großen Stück Emmentaler.
Klaus nahm eine Flasche aus einem silbernen Kübel und schenkte mit schwungvoller Geste Sekt ein. «Auf unsere kulinarische Pilgerin», sagte er und hob sein Glas. «Willkommen in der heiligen Stadt Wien.»
Der Sekt war süß und mit zu viel Kohlensäure versetzt und schmeckte auffallend nach Sprite.
«Es ist so prima, dass du hier bist!», rief Cindy. Sie schnippte wie verrückt mit den Fingern, bis durch eine Seitentür ein Dienstmädchen herbeigeeilt kam. «Mirjana, Liebes», sagte Cindy, auf einmal mit der Stimme eines Kleinkinds, «hatte ich nicht gesagt, wir nehmen das Roggenbrot und nicht das Weißbrot?»
«Ja, Madame», sagte die nicht mehr junge Mirjana.
«Nun, jetzt ist es eigentlich zu spät, weil das Weißbrot ja für später gedacht war, dennoch möchte ich Sie bitten, es wieder mitzunehmen und uns stattdessen das Roggenbrot zu bringen! Und dann vielleicht jemanden loszuschicken, der uns für später noch Weißbrot besorgt!» Zu Denise sagte Cindy: «Sie ist so lieb, aber auch so, so dumm. Nicht wahr, Mirjana? Bist du nicht ein dummes Ding?»
«Ja, Madame.»
«Na ja, als Küchenchefin kennst du das bestimmt», sagte Cindy wieder zu Denise, während Mirjana abtrat. «Die Dummheit der Leute ist für dich wahrscheinlich ein noch größeres Problem.»
«Dummheit und Arroganz», sagte Klaus.
«Bitte jemanden, etwas zu tun», sagte Cindy, «und er tut einfach etwas anderes, es ist frustrierend! So frustrierend!»
«Meine Mutter lässt euch grüßen», sagte Denise.
«Deine Mom ist so prima. Sie war immer so nett zu mir. Klaus, erinnerst du dich noch an das winzig kleine Haus, in dem meine Familie früher wohnte (vor ganz langer Zeit, meine ich, als ich ein winzig kleines Mädchen war), na ja, damals waren Denise' Eltern unsere Nachbarn. Meine Mom und ihre Mom sind noch heute gute Freundinnen. Deine Eltern wohnen vermutlich noch heute in dem kleinen alten Haus, oder?»
Klaus lachte rau und schaute Denise an. «Wissen Sie, was ich an St. Dschud so schrecklich finde?»
«Nein», sagte Denise. «Was finden Sie denn an St. Jude so schrecklich?»
«Was ich so schrecklich finde, ist diese Pseudodemokratie. Die Leute dort tun, als wären sie alle gleich. Alles ist sehr nett. Nett, nett, nett. Aber die Leute sind nicht alle gleich. Ganz und gar nicht. Es gibt Klassenunterschiede, es gibt Rassenunterschiede, es gibt gewaltige — entscheidende — finanzielle Unterschiede, aber was das betrifft, ist niemand ehrlich. Alle spielen sie Theater! Ist Ihnen das mal aufgefallen?»
«Meinen Sie zufällig die Unterschiede zwischen meiner Mutter und Cindys Mutter?», fragte Denise.
«Nein, ich kenne Ihre Mutter doch gar nicht.»
«Klaus, das stimmt nicht!», sagte Cindy. «Du hast sie mal kennen gelernt. An Thanksgiving vor drei Jahren, bei unserem
Empfang. Weißt du noch?»
«Tja, sehen Sie, alle sind gleich», erklärte Klaus. «Genau das meine ich. Wie soll man die Leute auseinander halten, wenn sie so tun, als wären sie alle gleich?»
Mirjana kam und brachte denselben trostlosen Teller mit anderem Brot.
«Hier, probier mal von dem Fisch», forderte Cindy Denise auf. «Ist der Sekt nicht herrlich? Wirklich etwas Besonderes! Klaus und ich mochten früher trockeneren Sekt lieber, aber dann haben wir den entdeckt und sind ganz hingerissen.»
«Trockener Sekt hat Snob-Eppiel», sagte Klaus. «Aber wer sich wirklich auskennt, der weiß, dass dieser Kaiser, der Extratrocken, doch eher nackt ist.»
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