Sie wollte etwas sagen, bemerkte dann aber ein Kind im angrenzenden Raum. Auf einem Strohsack sitzend, starrte das kleine, kupferfarbene Mädchen mit gesenktem Kopf auf seine Hände.
»Ist das Kind krank, Mrs. Czorna?«
»Nicht krank, nicht diese Art von Krankheit. Vor seiner Abreise hat Mr. Brown ihr eine Schildkröte gekauft. Vor zwei Nächten, als wir den Schnee hatten, kroch die Schildkröte aus dem Fenster und erfror. Sie will nicht, daß ich das Tier beerdige. Sie will nicht essen, nicht sprechen oder lachen – ich vermisse ihr Lachen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Gerührt vom Anblick der hoffnungslosen Gestalt im anderen Raum, sagte Brett impulsiv: »Darf ich einen Versuch machen?«
»Nur zu.«
»Ihr Name ist Rosalie, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt.«
Brett ging in den Schlafsaal und setzte sich neben das kleine Mädchen, das sich nicht bewegte. In der offenen Handfläche des Kindes lag die tote Schildkröte – nicht sonderlich gut riechend.
»Rosalie? Darf ich deine Schildkröte nehmen und ihr ein warmes Plätzchen geben?«
Das Kind starrte Brett mit leeren Augen an. Es schüttelte den Kopf.
»Bitte, Rosalie. Sie verdient es, warm und gemütlich zu liegen, während sie schläft. Hier drinnen ist es kalt. Kannst du es nicht spüren? Komm, hilf mir draußen. Danach gehen wir zu mir, zu Kuchen und Kakao. Du kannst die große Mamakatze sehen, die letzte Woche Junge gekriegt hat.«
Sie faltete die Hände, wartete. Das Kind starrte sie an. Langsam griff Brett nach der Schildkröte. Das Kind schaute hinunter, sagte aber nichts. Brett bat Mrs. Czorna um einen großen Löffel, dann gingen sie zusammen hinter das weißgetünchte Gebäude. Mit dem Löffel grub Brett ein Loch in den winterlichen Boden. Sie wickelte die Schildkröte in ein sauberes Tuch, legte sie hinein und häufte vorsichtig Erde darüber. Als sie aufblickte, sah sie Rosalie weinen.
»Oh, armes Kind. Komm her.«
Sie breitete die Arme aus. Das kleine Mädchen rannte auf sie zu. Während der kalte Wind pfiff, hielt Brett das zitternde Körperchen. In diesem Augenblick, an diesem grauen Morgen, wurde ihr etwas bewußt. Rosalie fühlte sich nicht anders an als jedes andere verletzte Kind auch.
Brett schloß sie fest in die Arme, spürte, wie die Hände des kleinen Mädchens um ihren Nacken glitten, und dann fühlte sie die feuchte Kälte seiner Wange, die sich wärmesuchend gegen die ihre preßte.
44
Tante Belle Nin starb am 10. Oktober. Seit Tagen war es mit ihr langsam zu Ende gegangen, Opfer einer Blutvergiftung, wie es der Arzt der Mains bezeichnete. Sie war bis zuletzt bei klarem Bewußtsein, rauchte eine Maiskolbenpfeife, die Jane ihr gestopft hatte, und gab Kommentare zu Träumen ab, die ihr Szenen aus dem Leben nach dem Tod gezeigt hatten. »Es macht mir nichts aus zu gehen, abgesehen von einem Detail«, sagte sie durch die Rauchwolken hindurch. »Wahrscheinlich werd’ ich meine beiden Ehemänner auf der anderen Seite treffen, und darauf könnt’ ich gut verzichten.«
Tante Belle paffte einige kräftige Züge, lächelte ihrer Nichte zu, reichte ihr die Pfeife und schloß die Augen.
Madeline war sofort damit einverstanden, daß Tante Belle am nächsten Tag auf Mont Royal begraben wurde – der gleiche Tag, an dem ein Feuersturm durch Charleston raste. Viele Häuserblöcke weit verbrannte Erde, sechshundert zerstörte Gebäude, Besitz im Wert von Millionen Dollars vernichtet. Schwarze Brandstifter sollten dafür verantwortlich sein. Die Neuigkeiten erreichten Mont Royal am Abend nach der Beerdigung; ein Kurier, unterwegs zur Ashley-Plantage, warnte vor einem möglichen Aufstand.
Während der Kurier sich mit Madeline und Meek unterhielt, schlenderte Jane allein durch das kühle Mondlicht am Fluß entlang. Ein Knirschen von Planken ganz vorn am Dock erschreckte sie. Cuffey beobachtete sie jetzt ständig, und als sie sich umwandte und die drohende Silhouette eines Mannes sah, dachte sie, er sei ihr gefolgt.
»Ich bin’s bloß, Miss Jane.«
»Oh, Andy. Hallo!« Sie entspannte sich, zog an ihrem Schal. Der Wintermond erhellte sein Gesicht, als er sich ihr scheu näherte.
»Wollte dir nur sagen, wie sehr der Tod deiner Tante mich bekümmert hat. Dachte, bei der Beerdigung ist nicht der richtige Ort dafür.«
»Ich danke dir, Andy.« Zu ihrer eigenen Überraschung stellte sie fest, daß sie ihn länger als nötig ansah.
»Möchtest du dich einen Moment hinsetzen?« fragte er. »Hab’ nicht viel Möglichkeiten, dich zu sehen, den ganzen Tag die Arbeit und – «
»Ist dir nicht kalt? Du hast nur dieses Hemd an.«
»Oh, das ist schon in Ordnung.« Er lächelte. »Warte, ich helfe dir – «
Er nahm ihre Hand, damit sie nicht fiel, als sie sich an den Rand des Docks setzte, und ließ sie dann fast erschrocken wieder los. Im Grunde genommen war Jane genauso nervös wie er. In Rock Hill hatte sie nie viel mit Männern zu tun gehabt. Sie war noch Jungfrau, und die Witwe Milsom hatte ihr den eindringlichen Rat gegeben, das auch zu bleiben, bis sie einen Mann gefunden hatte, den sie liebte und heiraten wollte.
»Schrecklich, dieses Feuer in Charleston.«
»Schrecklich«, stimmte sie zu, obwohl sie nichts für die weißen Besitzer übrig hatte. Sie wünschte sich keine Toten, hätte aber nichts dagegen gehabt, wenn jede Plantage im Staat niedergebrannt wäre.
»Ich denk’, du wirst jetzt bald nach Norden aufbrechen.«
»Ja, ich glaub’ schon. Nun, wo Tante Belle beerdigt ist, bin ich – « Sie hielt inne, verbiß sich das Wort ›frei‹, falls es ihn verletzen würde. Es war ein mächtiges Wort, frei. »-- kann ich tun, was ich will.«
Er studierte seine Finger; schließlich brach es aus ihm heraus. »Hoffentlich stört es dich nicht, wenn ich noch was sag’.«
»Kann ich erst wissen, wenn du’s gesagt hast, oder?«
Er lachte, nun etwas lockerer. »Ich wollt’, du würdest bleiben, Miss Jane.«
»Du mußt mich nicht dauernd Miss nennen.«
»Scheint angebracht. Du bist eine feine, hübsche Frau – klüger, als ich’s je sein werde.«
»Du bist klug, Andy. Ich kann das beurteilen. Und es wird noch besser, wenn du lesen und schreiben gelernt hast.«
»Das ist ein Teil von dem, was ich meine, Mi… Jane. Wenn du weg bist, wird niemand mehr hier sein, der mich unterrichtet. Niemand, der irgendeinen von uns unterrichten könnte.« Er beugte sich vor. »Die Soldaten von Lincoln kommen immer näher. Aber so wie ich jetzt bin, komme ich in der Welt der Weißen nicht zurecht. Weiße schreiben Briefe, Rechnungen, machen Geschäfte. Ich bin nicht besser auf die Freiheit vorbereitet als irgendein alter Hund, der den ganzen Tag in der Sonne liegt.«
Sie fühlte einen Schuß Ärger. »Du meinst, ich soll mich schämen, weil ich nicht bleibe und unterrichte. Das ist nicht meine Aufgabe. Das ist nicht meine Pflicht.«
»Bitte sei nicht böse. Das ist nicht alles.«
»Was meinst du, das ist nicht alles? Ich versteh’ nicht.«
Er schluckte. »Nun – Miss Madeline geht bald zu Mr. Orry. Meek ist kein bösartiger Verwalter, aber er ist hart. Die Leute brauchen jetzt eine andere stützende Hand, eine Freundin wie Miss Madeline.«
»Und du glaubst, ich könnte sie ersetzen?«
»Du bist – bist keine Weiße, aber du bist frei. Ist das Nächstbeste.«
Woher kam so plötzlich diese Woge der Enttäuschung? Sie wußte es nicht. »Tut mir leid, daß ich dich falsch verstanden hab’. Und danke für dein Vertrauen, aber – « Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als er ihre Hand packte.
»Ich will nicht, daß du gehst, weil ich dich mag.«
Er sprudelte den Satz so schnell heraus, daß er wie ein einziges Wort klang. Kaum fertig, klappte er den Mund zu und schaute drein, als würde er im nächsten Moment vor Scham in den Boden versinken. Er war fast nicht zu hören, als er hinzufügte: »Ich entschuldige mich.«
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