»Nein, aber ich erwarte ihn bald.«
»Wenn er zurückkehrt, richten Sie ihm meine Grüße aus. Ich stehe ihm für die Abfassung seines Jahresberichts zur Verfügung.« Und damit verschwand Stanton in den Fluren des Kapitols.
»Gehen Sie bitte hinein«, forderte ihn Wades Verwaltungsassistent von seinem Schreibtisch aus auf.
»Was? Oh, ja – danke.«
Stanley stolperte auf den großen Walnußschreibtisch des Senators zu; Wades verächtlich hängende Oberlippe und das Glitzern der kleinen, schwarzen Augen schüchterten ihn ein. Wade, einst Staatsanwalt im nordöstlichen Ohio, war mindestens sechzig, strahlte aber eine Energie aus, die ihn jugendlich wirken ließ.
»Setzen Sie sich, Mr. Hazard.«
»Jawohl, Sir.«
»Ich erinnere mich, wir haben uns schon mal bei einem Empfang für Mr. Cameron getroffen. Was kann ich für Sie tun?« Er feuerte die Worte wie Kugeln ab.
»Senator, es ist schwierig, einen Anfang zu finden.«
»Fangen Sie an, oder lassen Sie es bleiben, Mr. Hazard. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann.«
Falls Isabel sich täuscht –
Wade verschränkte seine Hände auf dem Schreibtisch und funkelte ihn an. »Mr. Hazard?«
Sich wie ein Selbstmörder fühlend, stürzte sich Stanley kopfüber hinein. »Sir, ich bin hier, weil ich Ihren Wunsch nach einer wirkungsvollen Kriegsführung und angemessener Bestrafung des Feindes vorbehaltlos unterstütze.«
»Die einzig angemessene Bestrafung hat gnadenlos und total zu sein. Fahren Sie fort.«
»Ich – « Zu spät für einen Rückzug; die Worte überstürzten sich. »Ich glaube nicht, daß der Krieg richtig geführt wird. Weder von der Exekutive«, Wades Augen erwärmten sich leicht, »noch von meinem Ministerium.« Sofort verdeckte eine Maske die Wärme. »Im ersteren Fall kann ich nichts tun.«
»Der Kongreß kann und wird. Fahren Sie fort.«
»Im letzteren Fall würde ich gern tun, was in meinen Kräften steht. Es gibt«, mit schmerzendem Magen zwang er sich, Wades schwarzem Blick standzuhalten, »Unregelmäßigkeiten bei der Versorgung, von denen Sie sicherlich gehört haben, und – «
»Einen Moment. Ich dachte, Sie seien einer der Auserwählten?«
Verwirrt schüttelte Stanley den Kopf. »Sir? Ich – «
»Einer aus dem Pennsylvania-Haufen, den unser gemeinsamer Freund mit nach Washington brachte, weil sie ihm bei der Finanzierung seiner Wahlkampagnen geholfen hatten. Ich hatte den Eindruck, daß Sie zu dem Rudel gehören – Sie und Ihr Bruder, der für Ripley arbeitet.«
Kein Wunder, daß Wade so mächtig und gefährlich war. Er wußte alles. »Ich kann nicht für meinen Bruder sprechen, Senator. Ja, es stimmt, ich kam hierher, um unseren, äh, gemeinsamen Freund zu unterstützen. Aber Menschen verändern sich.« Ein schwaches Grinsen. »Der Minister war einst ein Demokrat – «
»Er wird von Zweckmäßigkeit geleitet, Mr. Hazard.« Der mitleidlose Mund zuckte – Wades Version eines Lächelns. »Wie wir alle in dieser Branche. Was haben Sie anzubieten? Wollen Sie ihn verkaufen?«
Stanley erbleichte. »Sir, diese Ausdrucksweise ist – «
»Grob, aber korrekt. Hab’ ich recht.« Der verängstigte Besucher blickte zur Seite. »Natürlich hab’ ich recht. Also, dann lassen Sie mal Ihr Angebot hören. Gewisse Kongreßmitglieder könnten daran interessiert sein… Vor zwei Jahren waren Simon, Zach Chandler und ich unzertrennlich, aber die Zeiten ändern sich.«
Stanley leckte sich die Lippen und überlegte, ob sich der Senator über ihn lustig machte.
Wade fuhr fort: »Die Kriegsanstrengungen sind mangelhaft, das weiß jeder. Präsident Lincoln ist mit Simon unzufrieden. Auch das weiß jeder. Falls Lincoln nicht handelt, werden es andere tun.« Eine kurze Pause. »Was könnten Sie ihnen anbieten, Mr. Hazard?«
»Informationen über unrechtmäßig vergebene Kontrakte«, flüsterte Stanley. »Namen. Daten. Alles. Mündlich. Kein schriftliches Wort.«
»Und was würden Sie als Gegenleistung für diese Hilfe verlangen? Eine Immunitätsgarantie für Sie?«
Stanley nickte.
Wade lehnte sich zurück; sein Blick nagelte seinen Besucher fest, drückte Verachtung aus. Stanley wußte, er war erledigt. Cameron würde bei seiner Rückkehr alles erfahren. Zum Teufel mit seinem dämlichen Weib.
»Ich bin interessiert. Aber Sie müssen mich davon überzeugen, daß Sie keine Fälschungen anzubieten haben.« Der Staatsanwalt beugte sich dem Zeugen entgegen. »Geben Sie mir zwei Beispiele. Mit allen Details.«
Stanley wühlte in seinen Taschen nach Notizen, die er auf Isabels Vorschlag hin vorbereitet hatte. Nachdem er Wade einige kleine Geheimnisse serviert hatte, verhielt sich der Senator erkennbar herzlicher. Wade forderte ihn auf, sich draußen vom Assistenten den Termin für ein neues Treffen an sicherem Ort geben zu lassen. Ganz benommen erkannte Stanley, daß alles vorüber war.
An der Tür schüttelte ihm Wade kräftig die Hand. »Ich erinnere mich, daß meine Frau einen Empfang in Ihrem Hause erwähnte. Ich freue mich darauf.«
Sich wie ein schlachterprobter Held fühlend, schwankte Stanley hinaus. Gesegnet sei Isabel. Sie hatte schließlich doch recht behalten. Es gab eine Verschwörung, um den Boß seines Postens zu entheben. Gehörte Stanton vielleicht auch zu den Eingeweihten?
Egal. Was zählte, war seine Abmachung mit dem alten Gauner aus Ohio. Wie Daniel hatte er sich unter die Löwen gewagt und überlebt. Am späten Nachmittag war er davon überzeugt, daß alles sein Werk war und Isabel nur eine zufällige Nebenrolle gespielt hatte.
38
Sein Name war Arthur Scipio Brown. Er war siebenundzwanzig, ein Mann mit breiten Schultern, einer Taille wie ein Mädchen, Händen gewaltig wie Waffen und einer bernsteinfarbenen Haut. Doch seine Stimme war sanft und leise, mit dem leicht nasalen Klang von New England. Er war in Roxbury geboren, außerhalb von Boston, von einer schwarzen Mutter, deren weißer Geliebter sie verlassen hatte.
Zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Constance Hazard sagte Brown, seine Mutter habe sich geschworen, nicht dem Mann nachzutrauern, der versprochen hatte, sie ewig zu lieben, und der sie dann verlassen hatte. Mit ihrem Verstand und ihrer Energie – mit ihrem ganzen Leben, sagte er – hatte sie ihrer Rasse gedient. Sechs Tage in der Woche hatte sie die Kinder von freien schwarzen Männern und Frauen in einem Schuppen unterrichtet; jeden Sonntag hatte sie Schülern einer Negergemeinde Unterricht erteilt. Vor einem Jahr war sie gestorben, schwer krebskrank, aber die Hand ihres Jungen haltend und mit klarem Blick; bis zum Schluß hatte sie sich geweigert, Laudanum zu nehmen.
»Sie war zweiundvierzig. Hat nie viel vom Leben gehabt«, sagte Brown. Es war eine Feststellung, keine Bitte um Mitleid.
Constance traf Scipio Brown bei dem Empfang für Dr. Delany, den Pan-Afrikaner. Delany hatte den jungen Brown mitgebracht. Im Gespräch mit Brown waren George und Constance von seinem Benehmen ebenso fasziniert wie von seiner Geschichte und seinen Ansichten.
Als Brown sagte, er sei ein Jünger von Martin Delany, fragte Constance: »Sie meinen, Sie würden das Land verlassen und nach Liberia oder einen ähnlichen Ort gehen, wenn Sie die Chance bekämen?«
Brown trank einen Schluck Tee. »Vor einem Jahr hätte ich auf der Stelle ja gesagt. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Amerika ist aufs schärfste gegen Neger eingestellt, und ich denke, so wird es auch noch für einige Generationen bleiben. Aber ich rechne trotzdem mit Verbesserungen.«
George sagte: »Ich gebe zu, daß Ihre Rasse unsägliche Leiden erdulden mußte. Aber würden Sie nicht auch meinen, daß Sie persönlich Glück gehabt haben? Sie wuchsen in Freiheit auf, und Sie haben Ihr ganzes Leben so verbracht.«
Überraschenderweise verriet Browns Miene Ärger. »Glauben Sie ehrlich, das macht irgendeinen Unterschied, Major Hazard? Jeder Farbige in diesem Land wird von den Ängsten der Weißen versklavt und der Art und Weise, wie diese Ängste das Verhalten der Weißen beeinflussen. Ich bin ein schwarzer Mann. Dieser Kampf ist mein Kampf.«
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