Mit einem Gewehr in der Hand stieg der Präsident aus der Kutsche, während Stoddard das Gespann an einem Pflock anband. In der Dämmerung wirkte Lincoln noch blasser als gewöhnlich, aber er schien guter Laune zu sein. Er ließ seinen Zylinder zu Boden fallen und nickte George zu, der salutierte.
»Guten Abend, Herr Präsident.«
»Abend, Major – bitte um Entschuldigung, aber ich kenne leider Ihren Namen nicht.«
»Aber ich«, sagte Stoddard. »Major George Hazard. Sein Bruder Stanley arbeitet für Cameron.« Lincoln blinzelte und schien sich leicht zu versteifen; anscheinend tat Georges Beziehung zu diesen Männern nichts für seinen Ruf.
Nichtsdestoweniger blieb Lincoln freundlich. »Es ist meine Gewohnheit, im Treasury Park zu schießen, obwohl die Polizei den Lärm haßt. Heute abend konnte ich nicht, weil dort ein Baseballspiel stattfindet.« Er spähte zu der Waffe, mit der George geschossen hatte. »Was haben wir da?«
»Eines der Jägergewehre, die wir vielleicht von der österreichischen Regierung kaufen werden, Sir.«
»Zufriedenstellend?«
»Kaum, obwohl ich kein Experte für Handfeuerwaffen bin. Allerdings befürchte ich, daß wir kaum was Besseres kriegen werden.«
»Ja, Mr. Cameron hat sich ein bißchen spät dem Tanz zugesellt, nicht wahr? Wir könnten diese Waffe als Ersatz nehmen«, Lincolns große, knochige Hand hob das Gewehr, das er mitgebracht hatte, als wäre es federleicht, »aber Ihr Chef hat für Hinterlader nichts übrig, ganz abgesehen davon, daß ein verängstigter Rekrut in der Hitze des Gefechts ordentliche Probleme mit einem Vorderlader kriegen kann. Vielleicht stopft er versehentlich die Kugel vor dem Pulver hinein. Oder er vergißt den Ladestock, und die Kugel fliegt wie ein Speer los.«
Seine freie Hand beschrieb einen Bogen. George studierte den Hinterlader. Auf der rechten Verschlußplatte konnte er gerade noch den Namen des Herstellers entziffern: C. Sharps.
»Mir ist auch klar, daß neu ein verpöntes Wort im Vokabular des Brigadiers darstellt«, fuhr Lincoln lächelnd fort. »Aber Hinterlader sind ja nicht gerade brandneu, oder? Ich persönlich bevorzuge einschüssige Hinterlader, und die Armee wird einige davon kriegen.«
Stoddard fragte George: »Sind in Europa welche bestellt worden?«
»Ich glaube nicht.«
»Keine«, unterbrach Lincoln, mehr melancholisch als gereizt klingend. Dann ging die Bombe hoch: »Deshalb habe ich kürzlich meinen eigenen Einkäufer mit zwei Millionen Dollar und unbeschränkter Vollmacht hinübergeschickt. Wenn ich nichts Befriedigendes von Cameron & Co. bekommen kann, dann muß ich es mir anderweitig besorgen, denke ich.«
Peinliches Schweigen. Stoddard räusperte sich. »Sir, es wird bald dunkel.«
»Dunkel. Ja. Die Stunde zum Träumen – ich beeile mich wohl besser mit dem Schießen.«
»Wenn Sie mich entschuldigen würden, Herr Präsident – « George befürchtete, daß seine Stimme seltsam klang; die schlechte Nachricht hatte seinen Mund ausgetrocknet.
»Gewiß doch, Major Hazard. Hat mich gefreut, Sie hier unten zu treffen. Ich bewundere Männer, die so viel wie möglich zu lernen versuchen. Ich gebe mir auch Mühe.«
Mit dem österreichischen Gewehr unterm Arm zog sich George in die hereinbrechende Nacht zurück. Er fühlte sich, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen. Cameron & Co. steckte in größeren Schwierigkeiten, als er sich vorgestellt hatte. Und er arbeitete für Cameron & Co.
Es hatte Stanley Freude bereitet, das von seinem Bruder ausgearbeitete Angebot zurückzuweisen. Stanley besaß einige wenige klare Erinnerungen an den langen, schrecklichen Rückmarsch von Manassas – daß er am Straßenrand geweint hatte, wußte er nicht, lediglich Isabel erinnerte ihn häufig genug daran –, und dazu gehörte, daß George ihn gestoßen und angetrieben hatte wie irgendeinen Plantagennigger. Nun hatte er noch einen weiteren Grund, um George seine Arbeit so schwer wie möglich zu machen.
Stanley sorgte sich wegen seiner Position als Camerons Trabant. Kneipengerüchte besagten, daß Camerons Stern bereits im Sinken war. Doch im Ministerium schien sich nichts verändert zu haben. Der Minister war aus Trauer um seinen Bruder für einige Tage seinem Schreibtisch ferngeblieben, aber danach gingen die Geschäfte und das Durcheinander wie gewöhnlich weiter.
Wichtige Kongreßabgeordnete hatten sich mündlich, brieflich und mittels Presseverlautbarungen nach den Einkaufsmethoden des Kriegsministeriums erkundigt. Daß Lincoln seinen eigenen Mann zu Waffenkäufen nach Europa gesandt hatte, zeigte kein großes Vertrauen zu ihnen, um es gelinde auszudrücken. Die Ausbildungslager klagten ständig über Mangel an Kleidung, Handfeuerwaffen und Ausrüstung. Mit zunehmender Offenheit wurde darüber gesprochen, daß Cameron eine Mißwirtschaft führte und daß der Armee nur die Hälfte von dem zur Verfügung stand, was sie benötigte.
Mit Ausnahme von Stiefeln, konnte Stanley sich selbst beglückwünschen. Pennyford produzierte in großen Mengen und termingemäß. Lashbrooks Profite, aufs Jahresende hochgerechnet, machten Stanley fassungslos und entzückten Isabel, die behauptete, mit dieser Goldgrube gerechnet zu haben.
Bedauerlicherweise konnte Stanleys persönlicher Erfolg ihm nicht bei der Krise im Ministerium helfen. Schriftliche und mündliche Anfragen waren nun von schneidender Schärfe. Skandalöser Mangel. Unregelmäßigkeiten festgestellt. War eine Unkorrektheit tatsächlich nachgewiesen worden, so leugnete Cameron sie nicht. Er nahm sie nicht mal zur Kenntnis. Eines Tages hörte Stanley zufällig, wie sich zwei Angestellte über diese Technik unterhielten.
»Heute morgen ist wieder ein sehr scharfer Brief gekommen. Diesmal vom Finanzministerium. Man muß die Art bewundern, wie der Boß damit umgeht. Steht schweigend wie ein Steinwall da – so wie der verrückte Jackson bei Bull Run.«
»Ich dachte, die Schlacht wäre bei Manassas geschlagen worden«, sagte der zweite Angestellte.
»Wenn’s nach den Rebs geht, schon. Wenn’s nach uns geht, bei Bull Run.«
Der andere stöhnte. »Wenn die anfangen, die Schlachten nach den Orten zu benennen und wir nach den Flüssen, wie zum Teufel sollen die Schuljungs in fünfzig Jahren damit klarkommen?«
»Wen kümmert das? Mir macht das Heute Sorgen. Selbst der Boß kann seinen Steinwall nicht ewig aufrechterhalten. Mein Rat ist, spar dein Gehalt und – « Er bemerkte Stanley, der sich mit einem Band von Kontrakten beschäftigte. Er stieß seinen Kollegen an, und sie gingen gemeinsam weg.
Stanley kehrte an seinen Schreibtisch zurück, konnte sich aber nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Er mußte eine gewisse Distanz zwischen sich und seinen alten Mentor legen. Wie? Ihm fiel nichts ein. Er mußte das Problem mit Isabel besprechen. Sie würde wissen, was er zu tun hatte.
Doch an diesem Abend war sie nicht in der Laune dafür. Er fand sie beim Zeitungslesen, kochend vor Wut.
»Was ärgert dich so, mein Liebes?«
»Unsere süße, durchtriebene Schwägerin. Sie schmeichelt sich genau bei den Leuten ein, mit denen wir Umgang pflegen sollten.«
»Stevens und dieses Volk?«
Isabel nickte heftig.
»Was hat Constance getan?«
»Sie hat wieder mit ihrem Abolitionistenwerk begonnen. Sie und Kate Chase fungieren als Gastgeberinnen bei einem Empfang für Martin Delany.« Der Name sagte ihm nichts, was seine Frau nur noch wütender machte. »Oh, sei doch nicht so schwerfällig, Stanley. Delany ist der Niggerdoktor, der diesen Roman schrieb, der vor ein paar Jahren jedermann so in Begeisterung versetzte. Blake; so hieß der Roman. Er rennt in afrikanischer Kleidung herum und hält Vorlesungen.«
Jetzt erinnerte sich Stanley. Vor dem Krieg hatte Delany die Idee eines neuen afrikanischen Staates vertreten, in den seiner Meinung nach die amerikanischen Neger emigrieren sollten. Delanys Plan rief die Schwarzen dazu auf, in Afrika Baumwolle anzupflanzen und dann im freien Marktwettbewerb den Süden in den Bankrott zu treiben.
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