Seit seiner Rückkehr vom Friedhof hatte Duncan mehrfach versucht, Charles auszufragen, wie er zu seiner Entscheidung gelangt war, aber Charles konnte unmöglich all die unterschiedlichen Gefühle beschreiben, die ihn durchströmt hatten.
Es gab so viele Möglichkeiten, er konnte in die Berge gehen und den Guerillakrieg gegen die Yankees fortsetzen. Er konnte heimgehen und sich dem Trunk und dem Müßiggang hingeben. Er konnte Selbstmord begehen. Und dann war da noch der Westen, Duncans Reiseziel. Er hatte den Westen schon immer geliebt, und Duncan wiederholte eindringlich, wie sehr da draußen Kavalleristen benötigt wurden. Charles hatte nichts anderes gelernt.
Aber all das spielte nur am Rande eine Rolle, verglichen mit dem, was ihm bei seiner Totenwache bewußt geworden war: der Tod von Gus und das Leben seines Sohnes. Das waren keine voneinander getrennten Dinge, sie waren unlösbar miteinander verbunden. Noch immer liebte er Augusta Barclay mehr als das Leben selbst. Also mußte er auch den Jungen lieben. Er mußte für den Jungen ebenso leben wie für sie, weil die beiden eine Einheit bildeten.
Duncan runzelte die Stirn, als er Charles’ düsteren Gesichtsausdruck sah. Er fragte sich, ob Charles die Folgen seiner Entscheidung ganz erfaßt hatte. Duncan räusperte sich.
»Wissen Sie, mein Junge, den Dienst, den Sie antreten wollen – wieder in der regulären Armee –, das wird nicht einfach sein für einen Mann Ihrer Herkunft.«
Charles reagierte sofort gereizt. Hart biß er auf seine kalte Zigarre.
»Ich habe genau wie Sie die Akademie absolviert, General. Ich bin kein Dilettant. Ich habe die Uniform einmal getauscht. Ich kann es auch ein zweitesmal tun. Es ist wieder ein Land, nicht wahr?«
»Das stimmt. Aber ich möchte Sie nur vor dem Unvermeidlichen warnen. Unhöflichkeiten. Beleidigungen – «
Mit harter Stimme sagte Charles: »Damit werde ich fertig.« Ein Sonnenstrahl blitzte zwischen den Hügeln auf und erhellte sein verwüstetes Gesicht.
Dankbar blickte Duncan auf. »Ah – Maureen – «
Das Kindermädchen kam mit dem Baby aus der Zweiten Klasse. »Er ist wach, General. Ich dachte, vielleicht möchten Sie – « Sie wußte nicht, an wen sie sich wenden sollte.
»Geben Sie ihn mir!« Dann, sich beherrschend, sagte Charles mit sanfterer Stimme: »Danke, Maureen.«
Mit unendlicher Vorsicht nahm er das Bündel in den Arm, während sich Duncan vorbeugte und den Deckenzipfel vom Gesicht des Kindes hob. Duncan strahlte, der Prototyp eines stolzen Großonkels.
Das rosige Kind betrachtete seinen Vater mit weit geöffneten Augen. Voller Furcht, ihm weh zu tun, versuchte Charles ein zögerndes Lächeln. Der kleine Charles verzog das Gesicht und brüllte los. »Wiegen Sie ihn, um Gottes willen.«
Das half, Charles hatte nie zuvor ein Kind geschaukelt, aber er lernte schnell.
»Ganz ehrlich, mein Junge«, sagte Duncan. »Ich freue mich zwar sehr, daß wir hier gemeinsam unterwegs sind, aber erstaunt bin ich trotzdem. Ich war fest davon überzeugt, daß Sie mit Ihrem Sohn nach South Carolina zurückkehren und ihn als Südstaatler erziehen.«
Der junge Vater starrte den älteren Mann an. »Charles ist Amerikaner. Genau so werde ich ihn erziehen.«
Duncan räusperte sich, um sein Einverständnis anzudeuten. »Übrigens, er hat noch einen zweiten Vornamen.«
»Das haben Sie mir nicht gesagt.«
»Hatte ich vergessen. Der Tag war wohl etwas außergewöhnlich. Sein voller Name lautet Charles Augustus. Meine Nichte wählte ihn vor – «
Er preßte eine Hand gegen die Lippen. Auch ihm fiel die Erinnerung schwer, erkannte Charles.
»Vor ihrer Entbindung. Sie sagte, sie habe den Spitznamen Gus immer geliebt.«
Charles spürte Tränen aufsteigen und zwinkerte schnell. Er blickte auf seinen Sohn herab, dessen Gesicht sich geheimnisvoll gerötet hatte, so, als müßte er sich sehr anstrengen. Duncan sagte: »Oh, ich glaube, wir brauchen Maureens Hilfe. Ich hole sie.«
Er trat auf den Gang hinaus. Vorsichtig berührte Charles das Kinn seines Sohnes. Das Baby packte seinen Zeigefinger, steckte ihn sich in den Mund und begann heftig daran zu nagen.
Duncan hatte Charles bereits klargemacht, daß Sauberkeit unerläßlich war. Heute hatte er sich schon dreimal die Hände geschrubbt – ein Rekord in seinem Erwachsenenleben. Er wackelte mit dem Finger. Charles Augustus gurgelte. Charles lächelte. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf seinen Sohn gerichtet; er sah weder den Zaun, der plötzlich neben den Schienen auftauchte, noch die aufflatternden, vom Zug erschreckten Bussarde, die sich an den verwesenden Überresten eines schwarzen Pferdes gütlich getan hatten.
Der Krieg hat eine tiefe Kluft aufgerissen zwischen dem, was zuvor in unserem Jahrhundert geschehen war, und dem, was seitdem geschehen ist … Ich habe nicht das Gefühl, in dem Land zu leben, in dem ich geboren wurde.
George Ticknor,Harvard, 1869
Alles änderte sich, änderte sich vollkommen: Eine schreckliche Schönheit ward geboren.
So schrieb Yeats in ›Ostern 1916‹. Diese Worte wurden zum Leitspruch für dieses Buch.
Es wurde nicht geschrieben, um zum x-ten Male zu demonstrieren, daß der Krieg die Hölle ist, was er natürlich ist; oder um die Sklaverei wieder einmal als unser abscheulichstes Nationalverbrechen zu entlarven, woran wohl kaum ein Zweifel besteht. Beide Begriffe spielen in dieser Geschichte eine wichtige Rolle, doch was ich in erster Linie zeigen wollte, ist der Wandel als universelle Kraft, die größte Neuorientierung, die Amerika innerhalb einer kurzen Zeitspanne vornahm: im Bürgerkrieg.
In seinem Buch Ordeal by Fire: The Civil War and Reconstruction charakterisiert James McPherson den Krieg in großartiger Weise als ›das zentrale Ereignis im historischen Bewußtsein Amerikas… (Es) bewahrte dieses Land vor der Zerstörung und bestimmte auf lange Sicht, zu was für einer Nation es sich entwickeln würde. Der Krieg regelte zwei fundamentale Dinge: …ob (die Vereinigten Staaten) zu einer Nation mit souveräner Nationalregierung oder zu einer jederzeit auflösbaren Konföderation souveräner Staaten werden würden; und ob diese Nation, geboren aus der Erklärung heraus, daß alle Menschen ein gleiches Recht auf Freiheit haben, weiterhin als größtes Sklavenhalterland der Welt existieren sollte.‹
Aber abgesehen von einer starken Erzählstruktur benötigte das Buch meiner Meinung nach drei Dinge, wenn es seinen Ansprüchen gerecht werden sollte.
Erstens Detailgenauigkeit. Und zwar nicht die Details der bekannten Ereignisse. Während der Entwicklung des Buches vom ersten Entwurf bis zur Endfassung entstand vor meinem geistigen Auge ein neues, großes Schild. (Das mittlerweile sehr alte Schild, das ich ständig vor mir hatte, trug die Aufschrift: In erster Linie wird eine Geschichte erzählt.) Auf dem neuen Schild stand: Nicht noch einmal Gettysburg.
Die Details, die ich wollte, fand ich oft genug auf Nebenwegen an faszinierenden Orten, die in Romanen über den Bürgerkrieg meist links liegengelassen werden. Beispielsweise auf dem Grund des Hafens von Charleston, wo das erstaunlich kleine Tauchboot einen dramatischen Wandel des Seekrieges auslöste. In der Bürokratie und in Kavallerie-Camps. Bei den Pionieren und den Mannschaften des militärischen Eisenbahnbaus. Im Inneren des Libby-Gefängnisses, in Liverpool und im Waffenamt in Washington.
In der Hoffnung, daß die Dinge, die mich interessierten, auch die Leser interessieren würden, wählte ich eine Anzahl weniger bekannter Nebenschauplätze und begann mit den Recherchen, die sich über ein Jahr hinzogen. An Material besteht wirklich kein Mangel, doch meine Suche galt ganz bestimmten Besonderheiten, was es hieß, in diesem Kampf als Soldat zu dienen und ihn zu überleben.
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