Der Corporal brach ab. Er warf dem Soldaten einen melancholischen Blick zu.
»Was ist los, Sid?«
»… muß ich sagen, daß die Geburt tragisch endete. Eine Stunde danach starb die arme Augusta. Sie schied dahin mit Ihrem Namen auf den Lippen. Ich weiß, sie liebte Sie mehr als das Leben selbst, denn sie hat es mir gesagt.«
Sid wischte sich die Nase. »Mein Gott!« Er fuhr fort: »Ich habe Ihnen bereits zwei Briefe geschrieben und mit privatem Boten nach Richmond geschickt. Wenn diese unseligen Zeiten vorüber sind, dann haben Sie Anspruch auf Ihren Sohn. Ich werde so lange für ihn sorgen, bis Sie ihn holen; sollte das nicht der Fall sein, dann werde ich mich so lange um ihn kümmern, wie das einem alten Junggesellen möglich ist. Ich bringe Ihnen keine feindseligen Gefühle entgegen. Ich bete, daß dieser Brief Sie bei guter Gesundheit erreicht. Mögen Sie sich über den guten Teil meiner Nachrichten freuen. Hochachtungsvoll – «
»Der Brief sollte auf jeden Fall zugestellt werden«, sagte Chauncey.
Sid faltete den Brief zusammen, steckte ihn wieder in den Umschlag. »Ich bring ihn selber zum Lieutenant.«
»Gut«, sagte Chauncey und starrte Sid an. Sid starrte zurück. Beide wußten, daß es nicht einfach, daß es fast hoffnungslos sein würde. Die Regierung von diesem verdammten Davis hatte so viele Aufzeichnungen verbrannt – wie sollten sie da einen Rebellenmajor unter den Hunderttausenden Richtung Süden ziehenden Soldaten finden?
141
Nachdem er Fredericksburg verlassen hatte, zog Charles drei Tage lang ziellos umher. Jede Nacht lag er wach. Verlor ohne jede Provokation die Beherrschung und hätte dafür in einer Kneipe beinahe ein Messer zwischen die Rippen bekommen. Er wollte weinen und konnte nicht.
Er lagerte am Straßenrand und schreckte mit einem Ruck hoch. Etwas hatte ihn im Gesicht gekitzelt; der halbe Zügel, immer noch an einen Ast gebunden. Er war mitten durchgebissen worden. Das Maultier war verschwunden, mit Sattel und allem Drum und Dran. Zum Glück hatte er noch seinen Colt.
Er ging mitten auf die Straßenkreuzung und betrachtete das tote, leere Land um sich herum. Einen seltsamen Augenblick lang fühlte er sich, als hätte sich die gesamte Macht der Union gegen ihn persönlich verschworen. Er wollte nichts weiter als sich niederlegen. Aufhören. Für immer.
Erinnerungen drängten sich auf. Gus. Für eine Weile genoß er die Gedanken an sie. Dabei fiel ihm ein Detail ein, das er ganz vergessen hatte. Ein Name.
Brigadier Duncan.
Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund. Gus hatte ihm unmißverständlich signalisiert, daß ihre Liebesaffäre vorüber war, aber er konnte sich zumindest erkundigen, wo sie sich aufhielt und wie es ihr ging. Duncan war vielleicht in der Lage, ihm dabei behilflich zu sein – falls er ihn finden konnte.
Es gab nur einen Ort, wo er mit der Suche beginnen konnte. Er nahm seinen Umhang und machte sich von der Kreuzung in nördlicher Richtung auf. Nach einer halben Stunde hatte er eine Negerfamilie eingeholt, die vorhin an ihm vorbeigegangen war und nun am Wegrand lagerte. Die beiden Erwachsenen schauten alarmiert drein. Charles versuchte ein Lächeln. Es fiel ihm sehr schwer.
»Abend.«
»Abend«, sagte der Vater.
Die Frau, weniger mißtrauisch als ihr Mann, sagte: »Gehen Sie nach Norden?«
»Washington.«
»Wir auch. Möchten Sie sich setzen und ausruhen?«
»Ja, danke.« Eines der beiden Mädchen kicherte und lächelte ihn an. »Ich habe mein Maultier verloren. Ich bin ziemlich müde.«
Endlich lächelte auch der Vater. »Ich wurde müde geboren, aber in letzter Zeit fühle ich mich besser.«
Charles wünschte, er könnte das auch von sich sagen. »Wenn ihr wollt, dann helfe ich euch, den Karren zu ziehen.«
»Sie sind ein Soldat.« Er meinte damit nicht Unionssoldat.
»War«, sagte Charles. »War.«
142
Brigadier Jack Duncan, ein untersetzter Offizier mit grauem Kraushaar, marschierte mit gestrafften Schultern ins Kriegsministerium. Eine halbe Stunde später verließ er es wieder mit strahlendem Gesicht.
Er hatte eine kurze, aber äußerst befriedigende Unterredung mit Mr. Stanton gehabt, der ihm lediglich die ersehnte Abkommandierung zur kämpfenden Truppe genehmigt hatte. Sie war ihm während des Krieges verweigert worden, da General Halleck nicht auf seine administrativen Fähigkeiten verzichten wollte. Jetzt hatte Duncan seine Marschbefehle in der Tasche.
Er war zu der West-Kavallerie abkommandiert worden, wo erfahrene Männer zur Bekämpfung der Indianer benötigt wurden. Seine Abreise stand unmittelbar bevor.
Beim Überqueren der überfüllten, lärmenden Pennsylvania Avenue bemerkte der Brigadier einen schlanken, zäh wirkenden Burschen mit langem Bart, grauem Hemd und Armee-Colt. Offensichtlich nervös kaute der Mann auf einer Zigarre herum und studierte das Gebäude, das Duncan eben verlassen hatte. Ein Reb, aus seiner gesamten Erscheinung zu schließen. Hunderte von Ex-Konföderierten schienen die Stadt zu überschwemmen, aber im Grunde gab es nur einen Reb, für den sich Duncan interessierte: ein Major namens Main.
Würde er je von dem Burschen hören? Er begann es zu bezweifeln. Auf seine drei Briefe hatte er keine Antwort erhalten. Höchstwahrscheinlich war Main tot. Duncan fühlte sich leicht schuldig, daß er für das Schweigen dankbar war. Er genoß es, sich um den kleinen Charles kümmern zu können. Zusätzlich zu seiner Haushälterin hatte er ein nettes irisches Mädchen eingestellt.
Bald erreichte er das kleine Haus, das er einige Blocks von der Avenue entfernt gemietet hatte. Überschwenglich wie ein Junge sprang er die Treppe hoch.
»Maureen? Wo ist mein Großneffe? Bringen Sie ihn her. Ich habe großartige Neuigkeiten. Wir verlassen noch heute abend die Stadt.«
Wenige Dinge im Leben hatten Charles eingeschüchtert. Washington schüchterte ihn jetzt ein. So viele verdammte Yankees. Er kam sich vor wie ein Tier aus den Wäldern, von Jägern umzingelt.
Mit vorgetäuscht zuversichtlicher Miene marschierte er die Stufen zum Kriegsministerium hoch und ging durch die erste offene Tür. In einem großen Raum wühlten Soldaten und Zivilangestellte hinter einem Schalter in den Papierstößen auf ihren Schreibtischen herum. Einer der Angestellten in Blau, vollkommen kahl, obwohl er kaum dreißig sein konnte, näherte sich dem Schalter, nachdem er Charles drei Minuten hatte warten lassen.
»Ja?«
»Ich versuche, einen Armeeoffizier zu finden. Bin ich hier richtig?«
»Haben Sie nicht die falsche Stadt erwischt?« unterbrach ihn der Angestellte. »Das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten führt keine Rebellenakten. Und falls es Ihnen noch niemand gesagt hat, falls Sie amnestiert wurden: Sie dürfen diese Waffe nicht tragen.« Er wandte sich ab.
»Entschuldigen Sie«, sagte Charles. »Der Offizier gehört zu Ihrer Armee.« Kaum hatte er es ausgesprochen, da wußte er, daß er einen Fehler gemacht hatte. Damit hatte er seine frühere Zugehörigkeit bestätigt. »Sein Name ist – «
»Ich fürchte, wir können Ihnen nicht helfen. Wir haben anderes zu tun, als jedem amnestierten Verräter Auskünfte zu geben, der hier reinmarschiert kommt.«
»Soldat«, sagte Charles, vor Wut kochend. »Ich frage Sie so höflich, wie es mir möglich ist. Ich muß diesen Mann finden. Wenn Sie mir sagen, in welchem Büro – «
»Niemand in diesem Gebäude kann Ihnen helfen«, sagte der Angestellte sehr laut. Andere wurden aufmerksam. »Warum fragen Sie nicht Jeff Davis? Heute morgen haben sie ihn in Fort Monroe eingesperrt.«
»Mich interessiert nicht, wo Jeff – « Wieder wandte sich der Angestellte ab.
Charles ließ seine Zigarre fallen, seine Hand schoß über den Schalter und packte den Angestellten am Kragen. »Hör mir zu, verdammt noch mal.«
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