Allgemeine Verwirrung. Rennende Männer, Rufe, Charles schrie am lautesten. »Sie können zumindest so höflich sein und – «
Stimmen:
»Er hat einen Revolver.«
»Nehmt ihm die Waffe weg.«
»Paßt auf, vielleicht – «
Hände packten ihn von hinten. Der andere Soldat, ein riesengroßer Kerl, war um den Schalter herumgerannt. »Komm, Reb, sei vernünftig«, sagte der große Mann gar nicht unfreundlich. »Verschwinde von hier, bevor – «
»Was zum Teufel ist hier los?«
Bei den gebellten Worten nahmen die Soldaten Haltung an. Charles drehte sich um und sah einen strengen, weißhaarigen Offizier in mittleren Jahren vor sich, an dessen rechter Hand drei Finger fehlten.
»Colonel«, fing der Angestellte an, »dieser Reb hier kam reinmarschiert und stellte beleidigende Forderungen. Eine höfliche Ablehnung akzeptierte er nicht. Statt dessen versuchte er – «
Die Worte wirbelten durch Charles’ Kopf; er starrte den Unionsoffizier an und sah eine Farm in Virginia vor sich, in einem anderen Jahr, in einem anderen Leben.
Mit heiserer Stimme sagte er: »Prevo?«
»Richtig. Ich erinnere mich an Sie. Hamptons Kavallerie. Davor West Point.«
Jemand im Büro murmelte: »Oh, ein Akademie-Treffen.«
Prevos Blick brachte den Sprecher zum Schweigen. Dann sagte er zu Charles: »Was gibt es hier für Schwierigkeiten?«
»Ich kam her, weil ich Hilfe brauche. Ich muß unbedingt einen Brigadier Duncan in der Unionsarmee finden.«
»Sollte nicht schwer sein«, sagte Prevo; seine Gereiztheit richtete sich gegen den errötenden Angestellten. »Sie sollten aber nicht mit diesem Revolver herumspazieren. Vor allem nicht in diesem Gebäude. Geben Sie ihn mir, und wir werden sehen, was wir tun können.«
Charles beruhigte sich und schnallte seinen Revolvergurt ab. Prevo hing ihn sich über die Schulter und sagte zu dem glatzköpfigen Angestellten: »Ihren Namen, Soldat! Warum haben Sie den Mann nicht ins Personalbüro geschickt?« Zu Charles: »Dort hat man die gegenwärtige Adresse des Brigadiers. Ich kenne ihn nicht.«
»Sir«, stammelte der Angestellte. »Dieser Mann ist ein Reb. Schauen Sie ihn an. Arrogant, dreckig – «
»Halten Sie den Mund«, sagte Prevo. »Der Krieg ist vorbei. Zumindest haben das die Generäle Grant und Lee erklärt, auch wenn Sie dazu anscheinend nicht in der Lage sind.«
Der gedemütigte Mann starrte zu Boden. Zu dem großen Soldaten sagte Prevo: »In einer Stunde möchte ich seinen Namen auf meinem Schreibtisch haben.«
»Jawohl, Sir.«
»Kommen Sie, Main. Ihr Name ist mir jetzt auch wieder eingefallen. Ich zeige Ihnen das richtige Büro.«
»Danke, Prevo«, sagte Charles. »Ich habe Sie gleich erkannt. Georgetown Mounted Dragoons.«
»Und einige andere Einheiten seitdem. Jede einzelne wurde in Virginia so stark dezimiert, daß ich schließlich hier landete. In ein paar Monaten werde ich wieder draußen sein. Hier entlang – nach rechts. Gleich werden wir wissen, wo dieser General Duncan steckt.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Prevo. Ich muß ihn unbedingt sprechen.«
»Beruflich?«
»Persönlich.«
Prevo hielt vor einer geschlossenen Tür. »Hier ist das Büro.« Alle Falten in seinem erschöpften Gesicht bewegten sich, als er sich ein Lächeln abmühte. »Ich war zwar nur das erste Jahr dort, aber ich denke gern an die Akademiezeit. Übrigens – haben Sie es eilig?«
»Nein. Ich muß Duncan finden, aber es eilt nicht.«
»Ausgezeichnet. Dann lade ich Sie hinterher zu einem Drink ein. Und«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, »gebe Ihnen Ihren Revolver zurück.« Mit einem Finger und dem Daumen öffnete er die Tür so mühelos, als hätte er noch seine sämtlichen Finger.
143
Auf Duncans Ruf hin brachte Maureen, eine rundliche junge Frau, das Baby aus der Küche. Der Junge hatte dunkle Haare und ein fröhliches, rundes Gesichtchen.
»Sagten Sie heute abend, Sir? Wohin gehen wir?«
Das Kind erkannte seinen Großonkel und krähte vergnügt, als der Brigadier es in die Beuge seines linken Armes bettete. »Ins Grenzgebiet – uns die Rothäute anschauen.« Besorgt: »Kommen Sie mit?«
»Aber ja, General. Ich habe einiges über den Westen gelesen. Da gibt es großartige Möglichkeiten – und es ist nicht so überfüllt wie hier im Osten.«
Mit listigem Lächeln ergänzte er: »Außerdem gibt es in der Kavallerie der Vereinigten Staaten viele anständige Männer, alleinstehende Männer, die sich nichts mehr wünschen, als eine attraktive, junge Frau zum Heiraten zu finden.«
Maureens Augen glänzten. »Ja, Sir. Das habe ich auch gelesen.«
Mrs. Caldwell, die vollbusige Haushälterin in mittleren Jahren, kam die Treppe hinunter. »Ah, Sir, Sie sind es. Ich war oben, aber ich hörte Sie kommen.«
»Nur, um unsere Abreise zu verkünden. Noch heute abend.« Er erklärte seiner Haushälterin den Stand der Dinge, während der Kleine zufrieden an einem seiner Finger nuckelte.
»Dann ist das also eine Beförderung, Sir?«
»Ja, Mrs. Caldwell.«
»Meinen aufrichtigen Glückwunsch.« Sie wischte sich die Augen. »Es tut mir so leid, daß Sie gehen. Die letzten fünf Jahre sind so schnell vergangen. Und sehr angenehm.«
»Danke. Jetzt müssen wir uns über Ihre Zukunft unterhalten.«
Mrs. Caldwell zeigte sich über die großzügige Regelung erfreut und fand an der plötzlichen Abreise sogar eine positive Seite. »Meine verwitwete Schwester in Alexandria hat mich gebeten, sie zu besuchen. Vielleicht bleibe ich einige Wochen. Wann geht Ihr Zug, General?«
»Punkt sechs.«
»Dann fahre ich noch heute zu meiner Schwester. Ich nehme mir eine Mietkutsche.«
»Nehmen Sie das Pferd und den Einspänner. Ich schenke sie Ihnen. Ich brauche sie nicht mehr.«
»Oh, Sir, das ist ungemein großzügig von Ihnen.«
»Nicht großzügiger, als Sie es gewesen sind«, sagte er in Erinnerung an gewisse Nächte, in denen sie beide einsam gewesen waren, in denen sie mehr als nur eine gute Haushälterin gewesen war. Ihre Blicke trafen sich, dann schaute sie errötend zur Seite.
»Wenn Sie mich entschuldigen, mache ich mich jetzt ans Packen, Sir.« In den nächsten paar Stunden mußte noch vieles getan werden.
Selbst der kleine Charles schien den abrupten Wandel in ihrem Leben zu begrüßen. Er kaute kräftiger denn je am Finger seines Großonkel.
In Willards Saloonbar zog Charles ebenfalls die Blicke auf sich, aber Prevos Gegenwart verhinderte Ärger.
Sie fingen mit einem Whiskey an. Das führte, während die Stunden in angenehmem Erinnerungsaustausch verrannen, zu drei weiteren Whiskeys. Charles spürte eine Art von Hochstimmung, wie er sie seit Sharpsburg nicht mehr empfunden hatte. Nicht nur, daß ein Zettel mit Duncans Adresse in seiner Tasche steckte, der Brigadier befand sich auch hier in Washington.
Leicht beschwipst hielt sich Prevo seine Taschenuhr dicht vor die Nase. »Um Viertel nach fünf hab ich eine Verabredung im Ministerium. Da bleiben uns noch zwanzig Minuten für einen Abschiedsschluck. In Ordnung?«
»In Ordnung. Dann mache ich einen Spaziergang zu Duncan.« Prevo winkte dem Kellner. Charles fuhr fort: »Das gibt mir die Chance, etwas zur Sprache zu bringen, das mich schon seit langem beunruhigt.«
Prevo lächelte leicht verwirrt und wartete.
»Erinnern Sie sich noch an den Tag, an dem wir uns trafen? Ich gab Ihnen mein Wort, daß sich die Schmugglerin nicht im Haus befindet.«
Prevo nickte. »Ihr Wort als Offizier und West Pointler. Ich akzeptierte das.«
»Aber es war ein Trick. Oh, ich sagte die nackte Wahrheit. Sie war nicht im Haus.« Der Kellner kam mit zwei frischen Drinks. Charles wartete, bis er wieder weg war. »Sie versteckte sich im Wald.«
»Ich weiß.«
Charles, der gerade sein Glas zum Mund führte, versprühte einen kleinen Whiskeyregen.
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