»Verwundete«, sagte George, nachdem er die Geschwindigkeit abgeschätzt hatte. Dann widmete er sich wieder seinen Bohnen, während der Waggon mit seinem Bruder vorbei ratterte.
104
Im Gewittersturm fuhren Virgilia und acht weitere Krankenschwestern mit dem Zug von Aquia Creek nach Falmouth. Dort war ein Nothospital zur Ergänzung der Kirchen, Ställe und Privatheime, die dem gleichen Zweck dienten, errichtet worden. Der hart umkämpfte Grund und Boden um Spotsylvania herum lieferte einen stetigen Strom an Opfern. Die schlimmsten Fälle, die nicht mal eine kurze Eisenbahnfahrt überleben würden, wurden in Falmouth behandelt.
Die Krankenschwester, die das Kommando führte, war Mrs. Neal, der Virgilia bereits dreimal zu entkommen versucht hatte. Miss Dix hatte ihre Versetzungsgesuche jedesmal knapp und bündig abgelehnt. Miss Hazards Dienste waren zu wertvoll. Miss Hazard war ein Gewinn für ihr gegenwärtiges Hospital. Auf Miss Hazards Dienste konnte nicht verzichtet werden.
Virgilia hegte den Verdacht, daß Mrs. Neal hinter diesen Ablehnungen steckte. Die ältere Frau erkannte Virgilias Fähigkeiten, aber es machte ihr Spaß, sie zu frustrieren. Virgilia hingegen verachtete ihre Vorgesetzte weiterhin, konnte sich aber nicht dazu bringen, den Dienst zu quittieren. Die Arbeit befriedigte sie immer noch ungemein. Sie brachte einer Vielzahl von schmerzgepeinigten Männern Trost und Genesung. Der Anblick der Verstümmelten und Sterbenden hielt ihren Haß auf die Südstaatler in voller Stärke am Leben.
»Es heißt, die Kämpfe um Spotsylvania seien fürchterlich gewesen.« Das kam von einer vollbusigen Jungfer namens Thomasina Kisco. Der Rand ihres schwarzen Hutes warf einen scharfen Schatten über ihr Gesicht. »Mit gewaltigen Verlusten.«
»Das wird dafür sorgen, daß Mr. Lincoln im November aus dem Amt entfernt wird«, sagte Mrs. Neal. »Er weigerte sich, die Schlächterei zu beenden, also muß die Wahl dafür sorgen.« Sie versäumte es selten, für McClellan und die Friedensdemokraten einzutreten.
»Stimmt es, daß sie auch konföderierte Verwundete in dieses Hospital bringen?« fragte Virgilia.
»Ja.« Mrs. Neals Ton war so kalt wie ihr Blick. Virgilia war an beides gewöhnt. Sie schauderte.
»Ich werde keine feindlichen Soldaten pflegen, Mrs. Neal.«
»Sie werden tun, was Ihnen gesagt wird, Miss Hazard.« Ihr Ärger erzeugte mitfühlende Blicke der anderen – für Virgilia. Mrs. Neal machte einen Rückzieher. »Wirklich, meine Liebe – Sie sind eine ausgezeichnete Krankenschwester, aber Sie akzeptieren offensichtlich keine Disziplin. Warum bleiben sie eigentlich im Dienst?«
Weil ich auf meine Art ebenfalls ein Soldat bin, du dämliche Kuh. Statt es laut zu sagen, wandte sie lediglich den Blick ab.
Der Waggon schwankte, der Wind heulte, der Regen peitschte durch die zerbrochenen Scheiben. Miss Kisco schaute ängstlich zur Decke hoch.
»Dieser Donner ist wahnsinnig laut.«
»Das sind die Kanonen von Spotsylvania«, sagte Virgilia.
Der Sturm hielt an, ließ die Leinwand der Zelte des Nothospitals flattern. Virgilia und Miss Kisco wurden einem Pavillon zugeteilt, in den Männer kamen, die zwar schwer verwundet waren, aber nicht sofort operiert werden mußten. Das Schneiden und Sägen fand im nächsten Pavillon statt, wo Mrs. Neal das Kommando übernommen hatte. Stündlich kam sie zur Inspektion bei Virgilia vorbei.
»Und jetzt hier herüber, Miss Hazard«, sagte der Chefarzt des Pavillons, ein dicklicher Mann mit schnaufender Stimme. Er riß sie fast mit zu einem Feldbett, auf das die Sanitäter einen schlanken Lieutenant mit seidig braunem Haar gelegt hatten. Der junge Mann war bewußtlos. Obwohl das Feldbett in der dunkelsten Ecke stand, erkannte Virgilia sofort die Farbe der Uniform.
»Dieser Mann ist ein Rebell.«
»Das hab’ ich mir beim Anblick des grauen Rocks auch gedacht«, sagte der Arzt gereizt. »Zufällig ist er auch noch verwundet.« Er deutete auf den rechten Oberschenkel. »Entfernen Sie bitte diesen Verband.«
Der Arzt riß einen großen Papierfetzen los, der an die Decke geheftet war. »Kugel nahe der Oberschenkelarterie. Gefäß zerrissen, aber nicht verklammert. Er ist ein Mississippi-Junge. Brigade von General Nat Harris. Seinen Namen kann ich nicht entziffern – «
Er hielt das Papier unter die nächste Laterne. Inzwischen zwang sich Virgilia, den Verband zu entfernen. Ein Junge in der nächsten Reihe würgte und weinte. Aus dem Operationszelt hörte sie das Raspeln von Sägen, die sich durch Knochen fraßen. So viel Leiden – und hier pflegte sie einen von denen, die für all dies Leiden verantwortlich waren. Ihre Wut flammte auf wie Feuer in trockenem Unterholz.
Die Wunde des Rebellen war von den Ambulanz-Sanitätern ordentlich versorgt worden. Die blasse Haut des Beines fühlte sich kühl an. Das erklärte die fehlende Blutung; es hatte aufgehört zu bluten, als die Temperatur sank.
»O’Grady.«
Virgilias Kopf ruckte hoch. »Wie bitte?«
»Ich sagte«, knurrte der Doktor, »sein Name scheint O’Grady zu sein. Thomas Aloysius O’Grady. Ich wußte gar nicht, daß es irische Kartoffelfresser am Mississippi gibt. Lassen Sie mich mal sehen.«
O’Grady. Ihr Haß auf den Jungen mit den seidigen Haaren verdoppelte sich, weil er diesen Namen trug. Sie krallte sich an ihrer Schürze fest, begann zu drehen, sanft zuerst, dann mit zunehmender Heftigkeit.
»Miss Hazard, sind Sie krank?«
Seine schnaufende Frage riß sie aus ihrer privaten Hölle. »Tut mir leid. Doktor – was sagten Sie?«
»Ich weiß nicht, wo Sie mit Ihren Gedanken sind, aber richten Sie bitte freundlicherweise Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Patienten. Wir müssen diese Arterie abklemmen und versuchen, die – «
»Doktor«, rief Miss Kisco von der anderen Seite des Pavillons. »Bitte, schnell ein Notfall.«
Im Weglaufen sagte der Arzt: »Ich kümmere mich um ihn, sobald ich kann. Legen Sie einen neuen Verband an, und behalten Sie ihn im Auge.«
Virgilia holte Gaze und kehrte ans Feldbett von Leutnant O’Grady zurück. Wieviele Unionssoldaten mochte der Mississippi-Junge getötet haben, fragte sie sich. Sie wußte nur eines: Er würde niemanden mehr töten. Wie passend, daß er fast den gleichen Namen trug wie ihr toter Geliebter.
Sie bemerkte Mrs. Neal, die sich am Zelteingang mit einem anderen Arzt unterhielt. Auch die Oberschwester beobachtete Virgilia für einige Momente. Sie versuchte sie ständig bei einem Fehler zu ertappen, aber es gelang ihr nie. Als Mrs. Neal ihre Aufmerksamkeit wieder dem Doktor zuwandte, machte sich Virgilia daran, den verwundeten Oberschenkel sorgfältig neu zu verbinden.
Nichts in ihrem Gesichtsausdruck deutete auf ihre Erregung hin, als sie die Wolldecke über den jungen Lieutenant zog. Als sie noch eine zweite Decke darüberlegte, konnte sie ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Zart strich sie dem Jungen über die kühle Stirn und glitt davon.
Während der nächsten zwanzig Minuten hatte der Chefarzt keine Zeit, sich um Lieutenant O’Grady zu kümmern. Aber Virgilia fand die Zeit, ging zu dem Feldbett, frische Gaze über dem Arm.
Vorsichtig hob sie die Decken an. Helles, arterielles Blut hatte den Verband gerötet. Der Soldat atmete jetzt laut und mühsam – wie erwartet. Sie tastete nach seinem Puls; er war schneller – ebenfalls wie erwartet. Die Decken hatten seine Temperatur nach oben getrieben, und eine zweite Blutung hatte eingesetzt. Auch wie erwartet.
Sie zog die Decken herunter und legte zwei neue Verbände über den ersten. Es würde einige Zeit dauern, bis das pumpende Blut durch diese Lagen gedrungen war. Sollte jemand die Decken aufheben, dann würde ihm wahrscheinlich gar nichts auffallen. Erneut zog Virgilia die Decken hoch und steckte sie ordentlich unter dem Kinn des Jungen fest. Sie spürte keinen Hauch von Gewissensbissen. Dies war der Feind. Sie war ein Soldat. Grady wartete schon lange darauf, gerächt zu werden.
Читать дальше