Jetzt aber mußte er sich erst mal darum kümmern, daß er gut durch die Linien der Union und weiter südlich dann durch die Linien der Konföderierten kam. Beim Biwak des anschließenden Regiments huschte er durch eine Lücke in der Postenkette. Wenige Augenblicke später tauchte der Mond hinter einer Wolke auf und überschüttete ihn mit Licht. Ganz deutlich war das große, schwarze D unter seinem rechten Auge zu erkennen.
Innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Ankunft der Krankenschwestern besserten sich die Zustände im Feldhospital. Inmitten all der Aktivität und gelegentlichen Verwirrung bereitete sich Virgilia auf die unvermeidliche Auseinandersetzung mit Mrs. Neal vor. Sie vermutete, die Oberschwester würde sich zuerst an sie persönlich wenden, anstatt zu dem leitenden Arzt zu gehen; auf diese Befriedigung würde sie nicht verzichten.
Gegen Ende von Virgilias erstem vollem Arbeitstag wurde es ruhiger. Sie trank einen Schluck Kaffee, schlenderte dann in die Abenddämmerung hinaus, vorbei an der Ecke ihres Pavillons. Als sie das Rascheln von Röcken hinter sich hörte, setzte sie sich, ohne sich umzudrehen, angespannt auf einen Baumstumpf.
»Miss Hazard?«
Mit ausdruckslosem Gesicht nahm Virgilia die Gegenwart der älteren Frau zur Kenntnis.
»Ich habe mit Ihnen eine ungemein ernste Angelegenheit zu besprechen. Ich fürchte, wir wissen beide, worum es sich dabei handelt.«
Die Oberschwester ging zu einem anderen Baumstumpf, ihre Untergebene wie ein Vorsitzender Richter musternd.
»Sie haben es zugelassen, daß dieser junge Südstaatler verblutet ist, nicht wahr? Mit anderen Worten, Sie haben ihn umgebracht.«
»Von allen lächerlichen, beleidigenden – «
»Es wird Ihnen nichts nützen, mit Aufgebrause und Protesten zum Angriff überzugehen«, unterbrach Mrs. Neal. »Sie haben mir im Zug erklärt, sehr deutlich und vor Zeugen, daß Sie keinen verwundeten Feind pflegen würden. Ihr extremer Haß auf den Süden ist allgemein bekannt. Sie bedeckten diesen jungen Mann mit Decken, obwohl Ihnen vollkommen klar war, daß erhöhte Temperatur zu einer erneuten Blutung führen würde.«
»Ja, ich habe ihn zugedeckt. Diesen Fehler geb’ ich zu. In der Verwirrung – so viele brauchten Hilfe – die Ärzte schrien durcheinander – «
»Unsinn. Sie sind eine der besten Schwestern, die ich je getroffen habe. Ich habe Sie noch nie leiden können, aber ich spreche Ihnen Ihre Fähigkeiten nicht ab. Sie würden niemals so einen Fehler machen, höchstens mit Absicht.«
Ohne ihre Vorgesetzte anzublicken, bluffte Virgilia: »Wenn ich den Irrtum eingestehe, wird es Ihnen schwerfallen, das Gegenteil zu beweisen.«
»Ich kann’s versuchen. Ich werde melden, daß Sie den Patienten im vollen Bewußtsein der Konsequenzen mit Decken zugedeckt und dann die Blutung durch neue Verbände verborgen haben.«
»Ich gebe die Decke zu, sonst nichts.«
»Dann ist jede weitere Diskussion sinnlos. Aber ich weiß, was Sie getan haben, und ich werde Miss Dix die Beweise vorführen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie bestraft werden.«
Und damit rauschte sie davon.
Die Dunkelheit senkte sich herab. Erschöpft gab sich Virgilia wilden Phantasien hin. Eine vergitterte Zelle. Hoch über ihr ein Mann in Robe, der das Urteil verkündete.
»Oh Gott«, weinte sie leise auf.
Sie riß sich zusammen, rieb sich die Angsttränen aus den Augen. Behalt die Nerven. Denke klar. Du hast kein Verbrechen begangen. Es war für Grady. Millionen würden es patriotisch nennen. Es war der Feind.
Aber all diese Vernunftgründe änderten nichts an der Tatsache, daß Mrs. Neal sie melden würde. Es würde eine Untersuchung geben. Es lag an ihr, das zu verhindern und den möglichen Konsequenzen auszuweichen: Anklage, Gefängnis –
Aber wie? Wie!
»Da bist du ja, Virgilia.«
Die Frauenstimme erschreckte sie. Sie sah Miss Kisco am Zelteingang. Jetzt erst fiel ihr auf, daß noch etwas in der Stimme der anderen Schwester mitschwang: Feindseligkeit.
»Was ist?«
»Der Chefarzt möchte dich sprechen.«
»Sag ihm, ich komme sofort. Ich bin noch etwas benommen von der Luft drinnen.«
»Gut.« Miss Kisco verschwand.
Virgilia drehte sich um und ging in entgegengesetzter Richtung in die Dunkelheit hinein.
Ihr Paß war in Ordnung; sie hatte keine Schwierigkeiten, den ersten Zug zu nehmen, der Aquia Landing verließ. Bei Sonnenaufgang dampfte sie auf einem Boot den Potomac hinauf.
Nie wieder würde sie zu diesem Feldhospital oder sonst einem Hospital zurückkehren. Aber sie würde sich auch nicht verstecken. Vor dem Pavillon war ihr der Einfall gekommen, daß sie einer Untersuchung nur durch Intervention einer einflußreichen Person ausweichen konnte. Eine Person, mächtig genug, um Mrs. Neal und selbst Miss Dix an die Wand zu drücken.
Sie bedauerte nichts, obwohl es ihr leid tat, daß sie nicht mehr als Krankenschwester arbeiten konnte. Aber wenigstens hatte sie ihre Karriere im Stile eines guten Soldaten beendet: Sie hatte einen Feind vernichtet.
In der Kühle des frühen Morgens ging sie am City-Pier an Land, entschlossen und ruhig. Sobald sie ein Zimmer gefunden und sich gesäubert hatte, würde sie Kontakt mit dem Kongreßabgeordneten Sam Stout aufnehmen.
106
In seinem Bett im Harewood Convalescent Hospital schrieb Billy:
Sonntag, 5. Juni. Wetter warm. Nachts müssen wir in Moskitonetze gehüllt werden, sonst werden wir aufgefressen. Bäume geben diesem Pavillon während der heißesten Stunden Schatten, aber nichts kann den Leichengeruch vertreiben, der über der Stadt hängt, seit General G. in die Schlacht gezogen ist. Überall Tote; man kann sie nicht mehr zählen.
Erhalte keine verläßlichen Nachrichten, aber die Sanitäter erzählten mir, daß eine weitere große Schlacht vor Richmond geschlagen wird. Vielleicht führt das zum Ende, und ich kann zu Dir heimkehren, meine geliebte Frau. Wenn nicht, dann werde ich in wenigen Tagen auf dem Weg zurück nach Virginia sein – die Kugel, die mich traf, hat den Unterschenkel glatt durchschlagen, ohne großen Schaden anzurichten.
Old Abe läßt sich nächste Woche in Baltimore wieder als Kandidat der sogenannten Nationalen Unions-Partei aufstellen, die anscheinend plötzlich ins Leben gerufen wurde, um Einigkeit zwischen gemäßigt radikalen Republikanern und Pro-Unions-Demokraten zu demonstrieren. Es ist keineswegs sicher, daß L. diesmal siegen wird. Viele sind gegen ihn, und es werden jeden Tag mehr. Ein Offizier meinte gestern hier zu diesem Thema, daß der Nation besser gedient wäre, wenn jemand den Präsidenten ermorden würde. Wie tief müssen wir noch im Wahnsinn versinken, bis all das ein Ende findet?
An dem Tag, an dem Lincoln erneut als Kandidat aufgestellt wurde, mit Gouverneur Johnson von Tennessee, einem Demokraten, als Vize, packte Isabel die Zwillinge und verließ das Haus für einen langen Urlaub in Newport. Washington war unerträglich geworden. Stanley erhob keine Einwände gegen die Abreise seiner Frau, denn sie ermöglichte ihm, eine junge Dame häufiger zu besuchen, deren Bekanntschaft er in einer Aprilnacht gemacht hatte, als er und einige republikanische Kumpels stockbetrunken das große Theater in der Ninth Street besucht hatten.
Das Publikum für die Show bestand fast ausschließlich aus Männern. Vor den Varieté-Künstlern trat eine spärlich bekleidete Tanztruppe auf. Eine der Tänzerinnen, ein vollbusiges Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren, war so hübsch, daß Stanley genau wie die schwitzenden Soldaten um ihn herum auf die Bank sprang und brüllte.
Stanley ließ kein Auge von dieser Tänzerin und verwickelte sie anschließend hinter der Bühne in ein Gespräch – was nicht schwierig war, nachdem die junge Dame seine teure Kleidung bemerkt und vernommen hatte, daß er unter anderem ein Vertrauter von Minister Stanton, Senator Wade und dem Kongreßabgeordneten Davis war.
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