»Rückzug«, flüsterte er.
»Nein«, sagte Billy, langsam die Beherrschung verlierend.
»William Hazard, ich befehle – «
»Nein, nein.« Er weinte. »Ich lasse dich hier nicht sterben.«
»Wessen das Leben ist – soll der den Tod nicht schau’n?«
»Hör auf mit der Bibel!« schrie Billy. »Du bleibst nicht hier, so einsam und verlassen.«
»Das werde ich nicht sein.« Lijes Stimme war schwach, aber er sprach jede Silbe deutlich aus. »Ich vertraue dem Wort des Herrn. ›Der, welcher mein Wort höret – und an mich glaubet – soll nicht der Verdammnis anheimfallen.‹ Es war mir vorherbestimmt, hier zu fallen. Dein Schicksal – ist es zu leben – und diese Männer – «
Eine weitere Granate schlug in den Wald, schleuderte Erde in den Rauch und Qualm, verwischte mit ihrer Explosion Lijes schwache Stimme.
»– in Sicherheit zu bringen. Ich befehle es dir.«
»Jesus.« Billy weinte. »Jesus Christus.«
»Versündige dich nicht. Ich befehle es dir. Lebe und – kämpfe weiter. Ich liebe dich wie einen Sohn. Das war mir – vorbestimmt.«
Das war es nicht, schrie eine Stimme tief in Billys Innerem. Es war nicht Gottes Wille, sondern Zufall und eine dämliche christliche Opferbereitschaft.
»Kommen Sie, Sir.« Hände zogen ihn. »Er ist tot, Sir.«
Billy senkte den Blick; Lijes Augen waren geschlossen, sein Gesicht war glatt.
»Kommen Sie, Sir«, wiederholte Spinnington. Überraschend sanft griffen er und ein weiterer bartloser Freiwilliger nach Billys Armen. Er war benommen, murmelte vor sich hin. »Wir holen seine Leiche, wir kommen zurück«, sagte eine ferne Stimme, die er nicht erkannte. Er bohrte seine schmutzigen Fäuste in seine feuchten Augen und ließ sich wegführen.
In der Nähe des Hauptquartiers machte ein Arzt eine Flasche Whiskey auf. Zwei Schlucke rüttelten Billy wach, versetzten ihn in die Lage, wieder einigermaßen zu funktionieren. Er wußte nun etwas, das er zuvor nicht gewußt hatte. Gott regierte einen solchen Krieg nicht – falls er überhaupt irgendwo regierte.
Der Rückzug zum Fluß begann am Vormittag; Soldaten, Kanonen, Ambulanzen, alles zog sich in wirrem Durcheinander zurück, während die Rebelleninfanterie vorrückte und die Rebellenartillerie weiter aus allen Rohren schoß. Billy, Spinnington und zwei andere schlichen sich vor, um Lijes Leiche zu bergen. Aber das Geschützfeuer von Hazel Grove war zu schwer gewesen; zuviele Bäume hatten sich entzündet, und die Flammen hatten sich so schnell ausgebreitet, daß Lijes Körper nichts Menschenähnliches mehr an sich hatte. Keiner von ihnen, nicht mal Billy, konnte länger als ein paar Sekunden hinsehen. Sie verließen die verkohlte Gegend und zogen sich zurück.
Mitten im Rückzug traf Billy die Erkenntnis: Nun, zumindest war er an einem Sonntag zur ewigen Ruhe gegangen.
77
Die ganze Montagnacht hindurch blieb der Militärtelegraph über lange Zeitspannen hinweg still. Im Kriegsministerium konnte man ein ständiges Kommen und Gehen übermüdeter Männer beobachten; einige blieben eine Stunde, andere wollten warten, bis neue Nachrichten eintrafen. Zu ihnen gehörte Stanley, Mitglied einer kleinen Gruppe, deren Status es erlaubte, daß sie in Stantons Büro warteten. Der Präsident hielt sich ebenfalls dort auf, ausgestreckt auf seiner Lieblingscouch; alle paar Minuten drehte er sich rastlos hin und her.
»Wo ist Hooker jetzt? Wo steckt General Stoneman? Warum zum Teufel schicken sie keine Nachricht?«
Stanley hielt sich die Schläfen und rieb sich mit zwei Fingern die schmerzenden Augen. Er hatte die ungeduldigen rhetorischen Fragen des Präsidenten satt. Stanton offensichtlich auch; seine Stimme klang rauh, als er sagte: »Sie werden ihr Schweigen brechen, wenn es angebracht erscheint, Herr Präsident. Ich nehme an, die Generäle sind damit beschäftigt, unseren Sieg zu festigen.«
Es war Dienstag, kurz vor Sonnenaufgang. Während der letzten zwölf Stunden, in denen nur völlig unzulängliche Nachrichten eingetroffen waren, hatte sich ein Gerücht wie eine ansteckende Erkältung ausgebreitet: Hooker hatte einen Sieg errungen, wenn auch zu einem hohen Preis.
Stanley hoffte bei Gott, daß Hooker einen Sieg errungen hatte. Die Partei benötigte mehr als nur diesen einen. Die Präsidentenwahlen fanden in etwas über einem Jahr statt, und wenn Lincoln stürzte, dann riß er viele andere mit sich. Stanley krümmte sich allein beim Gedanken an diese Möglichkeit. Er hatte an seinem Job und der damit verbundenen Macht Geschmack gefunden. Falls Isabel für den Rest ihres Lebens zurück nach Lehigh Station mußte, dann würde sie ihm die Schuld daran geben und ihm das Leben noch schwerer machen. Ein Jammer, daß er über keinen Ersatz für Isabel verfügte – irgendeine jüngere und weniger kluge Frau, die seinen Problemen mit einem gewissen Verständnis und Mitgefühl gegenüberstehen würde.
Als Stanley Willard’s Speisesaal betrat, sah er seinen Bruder ganz allein an einem Tisch frühstücken. Stanleys erster Impuls war, den Raum wieder zu verlassen. Seit Wades Niederlage im Senat hatte er George nicht mehr gesehen, und George würde zweifellos seinen Triumph auskosten.
Doch die lange Nachtwache hatte Stanley in eine für ihn untypische Verfassung gebracht: Er sehnte sich nach der Gesellschaft eines Menschen von außerhalb des Kriegsministeriums. Also steuerte er auf den Tisch zu, an dem George saß und mit einem sehr merkwürdigen Gesichtsausdruck auf seine Bratkartoffeln starrte. Erst als Stanley sich räusperte, hob George den Kopf.
»Hallo, Stanley. Wo kommst du her?«
»Aus dem Telegraphenraum. Ich habe dort die ganze Nacht auf Nachrichten aus Virginia gewartet.«
»Und? Gibt es welche?«
»Sehr wenige. Darf ich mich zu dir setzen?«
George deutete auf einen Stuhl. Noch immer ging ihm nicht aus dem Kopf, was er vorhin auf der Straße gesehen zu haben glaubte. Stanley legte seinen Hut ab und zog seine Weste über die ständig größer werdende Rundung seines Bauches. »Stimmt was nicht, George? Probleme mit Constance oder den Kindern?«
Bastard, dachte George. Es gehörte zu Stanleys Stil, solche Fragen mit hoffnungsvollem Unterton zu stellen. »Ja, es stimmt was nicht. Vor zehn Minuten hab’ ich einen Geist gesehen.«
»Ich bitte dich.«
»Sir?« sagte der Kellner, der auf Stanleys Bestellung wartete.
»Kommen Sie später noch mal«, schnappte Stanley. »Erklär mir, was du damit meinst, George.«
»Ich habe Virgilia gesehen. In einem der Wagen auf der Straße.«
Vor Verblüffung verschlug es Stanley für einen Moment die Sprache. »Ich dachte, Virgilia sei weit weg von diesem Teil des Landes. Ich habe seit zwei oder drei Jahren nichts mehr von ihr gehört.«
»Ich bin sicher, daß sie es war – nun, jedenfalls so gut wie sicher. Du weißt, daß sie nie Wert auf ihre Kleidung legte, und diese Frau war elegant gekleidet. Ihr Haar war modisch frisiert. Aber selbst diese Änderungen – «
»Offensichtlich bist du dir alles andere als sicher«, unterbrach ihn Stanley. »Aber angenommen, es war Virgilia. Was geht dich das an? Was für einen Unterschied würde es machen? Für mich und Isabel keinen, das kann ich dir sagen. Bis auf den Nachnamen und die Verachtung des Südens verbindet mich nicht das geringste mit meiner Schwester.«
»Hast du dich nie gefragt, wie es ihr geht?«
»Nie. Sie ist eine Diebin und eine Hure – und das sind noch die freundlichsten Bezeichnungen, die ich finden kann. Ich verspüre keine große Lust, über Virgilia oder ein ähnlich unangenehmes Thema zu sprechen. Ich bin die ganze Nacht auf gewesen und möchte in Ruhe und Frieden mein Frühstück verzehren. Wenn du willst, kann ich das auch an einem anderen Tisch tun.«
»Beruhige dich, Stanley. Bestell etwas, und ich bin still.«
Читать дальше