79
»Es ist alles da«, sagte der Albino. »Wo ist das Geld?«
»Alles zu seiner Zeit – alles zu seiner Zeit!«
Bents kleine, dunkle Augen überflogen die eng beschriebenen Seiten. Der Albino, ein sanfter, verletzlich aussehender Junge von achtzehn oder neunzehn Jahren, ging mit mürrischem Gesichtsausdruck ein Stück beiseite; er riß einen Strohhalm aus einem der im Schuppen aufgetürmten Ballen und kaute darauf herum.
Bent las weiter. »Sie finden alles wie versprochen«, sagte der Albino. Es klang wie eine Beschwerde. »Komplettes Verzeichnis der Produktion bei Tredegar – Kanonen, Granathülsen, Geschützlafetten, Panzerplatten für Mr. Mallorys Panzerschiffe. Dazu eine lange Liste mit der jeweiligen Menge. Mein, äh, Freund, der die Informationen zusammengestellt hat, war einer von Joe Andersons Spitzenassistenten.«
Bent, aufmerksam geworden, räusperte sich. »Sagtest du: war?«
»Jawohl, Mr. Bascom.« Geziert strich er sich mit der linken Hand das schöne, weiße Haar von der Schulter. »Leider wurde er letzte Woche entlassen. Einige Unregelmäßigkeiten bei Zahlungen.«
»Was für Unregelmäßigkeiten?«
»Das hat was mit der Begünstigung von gewissen Lieferanten zu tun. Auf diesen Bericht wirkt es sich nicht aus. Der ist hundert Prozent zuverlässig.«
»Oh ja, das glaube ich auch«, sagte Bent nickend. Er faltete die Blätter zusammen und steckte sie in die Seitentasche seines zeltähnlichen Rockes. In seinem neuen schwarzen Alpacca-Anzug, den schweren Stiefeln und dem breitkrempigen Hut ähnelte er einem respektablen Geschäftsmann.
Seine Gedanken rasten. Diese arme Kreatur hatte eben versehentlich eine verderbliche Information ausgeplaudert, als Kontaktmann war er nun nutzlos. Bent wußte, daß er nun handeln mußte, und er würde auch nicht zögern; Baker hatte ihm viel Handlungsspielraum gelassen.
»Ich habe das Geld dabei.« Er wühlte in einer Tasche. Der Albino leckte sich die Lippen. Eine Glocke ertönte auf einem nächtlichen Paketboot. Ein kurzes Stück flußab, jenseits des Kanals, aber noch auf dieser Seite des Flusses, rötete die ausgedehnte Tredegar-Gießerei die Nacht und füllte sie mit dem Lärm ihrer Maschinen.
Bent befand sich noch nicht lange in dieser Abteilung, aber einige der Feinheiten hatte er bereits gelernt. Ein inaktiver Kontaktmann war potentiell gefährlich. Der Albino wußte, daß Bent ein Spion der Union war. Er konnte Bent jederzeit den Behörden melden. Oder er konnte, nachdem Bent Richmond verlassen hatte, ein bißchen zuviel reden und so Bents Risiko bei einer möglichen Rückkehr erhöhen.
Der Albino sagte: »Wie Sie wissen, muß ich den Betrag mit meinem Freund teilen, der die Informationen geliefert hat. In so schweren Zeiten wie diesen ist jeder zusätzliche Dollar willkommen. Was meinen Freund anbelangt, so gehöre ich nicht ausschließlich ihm, falls Sie also Lust haben sollten – «
»Ein andermal«, sagte Bent, nur kurzfristig in Versuchung geführt. Er mußte Pflicht und Vergnügen getrennt halten. Abgesehen davon hatte der kleine Schweinehund vielleicht eine Krankheit. »Ich glaube, damit wäre unser Geschäft beendet.« Er reichte dem Albino das Geld. »Geh du zuerst. Ich lösche die Laternen und folge in wenigen Minuten nach.«
»In Ordnung, Mr. Bascom.« Der Albino klang enttäuscht.
»Übrigens – befindet sich dein Freund noch in Richmond?« Sein Entschluß stand zwar fest, aber die Antwort könnte die Länge seines Aufenthalts in der Stadt beeinflussen.
Unerwarteterweise sagte der Albino: »Nein, Sir. Er ist für ein paar Tage nach Charlottesville heimgefahren, um sich zu fassen. Es war ein schwerer Schlag für ihn, von Joe Anderson rausgeworfen zu werden. Er hat zehn Jahre bei Tredegar gearbeitet.«
»Traurig«, erklärte Bent. Die Nervenanspannung ließ sein Herz jetzt schnell schlagen. Der Albino warf ihm einen letzten bittenden Blick zu.
»Also dann – gute Nacht, Mr. Bascom.«
»Gute Nacht.«
Während der Albino zur Tür schlenderte und nach dem Haken griff, öffnete Bent lautlos sein Klappmesser. Die lange Klinge blitzte im Schein der Laternen auf.
Der Albino hörte den schnellen, schweren Schritt und spähte über die Schulter. Bevor er aufschreien konnte, lag Bents linker Ellbogen um seine Gurgel. Mit aller Kraft stieß er dem Albino das Messer in den Rücken. Die Klinge traf auf Widerstand. Er stieß weiter, drehte das Messer erst in die eine, dann in die andere Richtung. Der Albino zerrte an Bents linkem Arm, aber es fehlte ihm an Kraft. Seine Schuhe scharrten über den Boden. Schließlich fiel der leichte Körper schlaff in sich zusammen.
Bent zog sein blutiges Messer heraus und würgte nur einmal kurz. Er war überrascht und erfreut, daß er sich zu dieser Art von Arbeit eignete. Da er den Freund des Albinos nie getroffen hatte, war er sicher, daß dieser nie Mr. Bascom mit einem gewissen Mr. Dayton aus Raleigh, North Carolina, in Verbindung bringen konnte, der vorübergehend in einem der billigeren Logierhäuser der Stadt abgestiegen war.
Er verbarg die Leiche unter Strohballen, nachdem er die Taschen des toten Jungen geleert hatte; Baker würde froh sein, das Bargeld anderweitig einsetzen zu können. Nach einer nochmaligen sorgfältigen Inspektion der Umgebung löschte Bent die Laternen und trat in die laue Mainacht hinaus. Er ging ein kurzes Stück am Kanal entlang und bog dann nach links ab, in Richtung des Zentrums der Stadt, die um eine Legende trauerte.
Der nächste Tag war Mittwoch, der 13. Mai. In voller Uniform, einschließlich der Schärpe und des Säbels aus Solingen, marschierte Orry mit vielen anderen Offizieren der Konföderation in der Beerdigungsprozession mit.
Hinter den Offizieren folgten Hunderte von Angestellten und untergeordneten Offiziellen aus Parlament und Stadtverwaltung. Direkt vor Orry ging sein Chef, Seddon, sein Freund Benjamin und andere Kabinettsmitglieder; noch davor die schwarz geschmückte Kutsche des Präsidenten und Mrs. Davis.
Ganz vorn wurde von einem einzelnen Soldaten das Lieblingsstreitroß des Generals, Old Sorrel, geführt. Vor Old Sorrel der schwarze Leichenwagen mit den sterblichen Überresten von Thomas Jonathan Jackson, die Pferde mit schwarzen Federbüschen geschmückt; als Ehrengarde ging je ein General neben den vier Rädern.
Jackson war am Sonntag gestorben, nachdem die Wunde seinen ganzen Körper vergiftet hatte; in einem vergeblichen Versuch, sein Leben zu retten, hatten die Ärzte seinen linken Arm amputiert. Den ganzen gestrigen Tag hatte er aufgebahrt im Gouverneursgebäude gelegen, die Nationalflagge über den Sarg drapiert. Als sein Körper für die Prozession zum Capitol Square fertig gemacht wurde, war Jacksons Witwe zusammengebrochen und weggeführt worden. Auf jeder Seite der Marschroute sah Orry tränenüberströmte Gesichter. Nichts hatte die Konföderation in letzter Zeit so tief getroffen wie Jacksons Tod. Seddon hatte Orry gestern zugeflüstert, als sie neben der Totenbahre standen, daß Lee fast untröstlich sei.
Die Prozession betrat Capitol Square durch die Westtore; Orry entdeckte seine Frau bei einer Gruppe von Damen, zu der auch Mrs. Stanard gehörte, eine der Grandes Dames der örtlichen Gesellschaft. Benjamin hatte für eine Empfehlung gesorgt, und Mrs. Stanard hatte sofort Gefallen an Madeline gefunden und ihr mitgeteilt, daß sie für Orrys Schwester, Mrs. Huntoon, nichts übrig habe.
Madelines Anblick heiterte ihn ein bißchen auf. Ansonsten gab es kaum Anlaß zur Heiterkeit. Im Westen ging Sam Grant erbarmungslos gegen Vicksburg vor. Männer senkten nicht mehr die Stimmen, wenn sie über die Absetzung von Davis diskutierten. Und unter General Winders Beamten herrschten weiterhin furchtbare Zustände in den überfüllten Gefängnissen, trotz häufiger Proteste von Orry und anderen.
Читать дальше