Danach ließ die Unterhaltung zu wünschen übrig. Stanley verzehrte ein gewaltiges Frühstück, während George diffuse Phantasiebilder eines Frauengesichts vor sich sah. Auf eine seltsame Weise waren beide Brüder über die Gesellschaft des anderen froh.
Gemeinsam verließen sie den Speisesaal. »Gehst du jetzt zur Arbeit?« erkundigte sich Stanley draußen. George meinte, er würde die drei Blocks zum Evening Star gehen, um zu sehen, ob dort neue Nachrichten angeschlagen worden waren.
»Wenn’s um genaue Nachrichten geht, verlasse ich mich lieber auf die Korrespondenten. Ihr Burschen in Stantons Büro veröffentlicht anscheinend nur das, was günstig ist, und unterdrückt den Rest.«
Die Beleidigung ärgerte Stanley, aber ihm fiel keine passende Antwort ein; unglücklicherweise hatte sein Bruder recht. Er begleitete ihn zur Star -Redaktion. Eine Menge von fast hundert Leuten drängte sich um die langen, handbeschriebenen Papierstreifen, die draußen hingen.
Das Neueste vom Kriegsschauplatz – – – – – – – – – – General Lee überrascht General Stoneman fällt den Rebellen mit seiner Kavallerie in den Rücken – – – – – – – – – – Feind bedroht Fredericksburg Unsere Virginia-Korrespondenten berichten von schrecklichen Kämpfen Samstag & Sonntag bei Chancellorsville
Mürrisch sagte George: »Altes Zeug. Hab’ ich alles gestern schon gelesen. Ich muß los – «
»Wart einen Moment«, sagte Stanley. »Sie bringen gerade eine neue Nachricht raus.«
Die Menge flüsterte erwartungsvoll, als ein Mann in Hemdsärmeln mit einem langen Bogen Papier in der Hand erschien. Er kletterte eine Leiter hoch und befestigte das Bulletin.
Erregende Neuigkeiten von der Armee! Hooker okay!!! – – – – – – – – – – Unsere Männer vollbringen Wunder an Tapferkeit – Tausende von feindlichen Soldaten gefangen – – – – – – – – – – General Stonewall Jackson angeblich schwer verwundet
Fast augenblicklich kam die Reaktion.
»Wir haben gesiegt! Fighting Joe hat’s geschafft!«
»Soll’n nur diese Gefangenen herbringen, wir hängen sie schon auf.«
»Schau dir das an – Jackson hat gekriegt, was er verdient hat.«
Stanley zog an seiner Weste. »Wenn diese Berichte stimmen – «
George hörte ihn nicht. Er dachte an Jackson, an den seltsamen, scheuen Presbyterianerjungen aus den Hügeln von West-Virginia, der sein Freund geworden war. Er erinnerte sich daran, daß er ihn Tom genannt hatte und wie er mit ihm und Orry und Sam Grant nach der Eroberung von Mexico City zusammengesessen hatte.
Das Bulletin flatterte in der Brise. Die Erfahrung hatte George gelehrt, daß viele solcher Bulletins sich als völlig oder teilweise falsch erwiesen. Bei diesem hier hatte er allerdings ein ungutes Gefühl.
Er wandte sich an Stanley: »Was sagtest du?«
»Ich sagte, es wird ein Segen sein für die Union, wenn die Nachricht über Jackson stimmt. Sogar noch größer, wenn die Verwundung tödlich sein sollte.«
»Halt die Klappe, Stanley. Spar dir deine dämlichen Bemerkungen für die rachsüchtige Menge, mit der du auf so vertrautem Fuß stehst.«
»Ich sage über einen verdammten Verräter, was ich will und – «
»Nein, das tust du nicht. Er war mein Freund.«
Stanley öffnete den Mund, schloß ihn aber schnell wieder. Mit leicht gesenktem Kopf starrte ihn George noch einen Moment drohend an, dann drehte er sich mit steifem Rücken um und verschwand hinter der nächsten Straßenecke.
Jemand in der Menge hatte den Wortwechsel gehört. Ein Mann reckte Stanley sein Kinn entgegen. »Was sagte dieser Offizier eben? Dieser Stonewall war sein Freund?«
»Jeden, der sowas zugibt, sollte man lynchen«, sagte eine fette Frau.
»Ich teile diese Meinung«, erklärte Stanley. Er bedauerte, mit George gefrühstückt zu haben, und überlegte wieder einmal, ob er nicht Colonel Bakers Aufmerksamkeit auf George lenken sollte.
78
Sie würde dafür büßen müssen, daß sie nach Washington fuhr, das wußte Virgilia. Bei ihrer Rückkehr nach Aquia Creek würde sie von der Frau, die erst kürzlich als Leiterin der Krankenschwestern eingesetzt worden war, eine strenge Rüge erhalten; man konnte nicht einfach verschwinden, wenn so viele Verwundete von Chancellorsville eingeliefert wurden. General Hookers großer Vorstoß war zurückgeworfen worden, was in der Hauptstadt kaum bekannt war, wie Virgilia bemerkte.
Virgilias Gewissen hielt sie im Dienst fest, aber einige anderen Umstände waren stärker. Fast vier Wochen hatte sie auf einen Gesprächstermin bei Miss Dix warten müssen. Und sie mußte etwas wegen ihrer immer unerträglicher werdenden Situation unternehmen.
Während ihres Interviews an dem Morgen, an dem George sie gesehen hatte, lobte sie die neue Oberschwester, Elvira Neal, die eine ordentliche Ausbildung genossen hatte. Dann kam sie zum eigentlichen Zweck des Gesprächs. Sie bat um ihre Versetzung in ein anderes Krankenhaus. Ihre Worte sorgfältig wählend, sagte sie, daß anscheinend ihre Persönlichkeit und die der verwitweten Mrs. Neal nicht ganz zueinander paßten. Sie äußerte ihre Meinung, daß sie getrennt voneinander wirkungsvoller arbeiten könnten.
»Und deswegen haben Sie zu solch einem kritischen Zeitpunkt Ihren Posten verlassen?« fragte Miss Dix. »Aus persönlicher Bequemlichkeit?«
Virgilias Temperament ging mit ihr durch. »Ich kann nichts Unrechtes dabei finden, so lange es besser – «
»Daran ist vieles unrecht, wenn man die Bedeutung des gegenwärtigen Feldzugs in Virginia berücksichtigt. Ich werde Ihren Antrag in Erwägung ziehen, aber das wird weder schnell gehen, noch stehe ich der Angelegenheit positiv gegenüber. Sie haben sich bis jetzt gut geführt, Miss Hazard, aber mit dieser Sache haben Sie sich einen schlechten Dienst erwiesen. Guten Morgen.«
Virgilia ging; lautlos verfluchte sie Miss Dix als eine verdammt sture Kuh.
Sie stieg wieder in die Kutschbahn und beruhigte sich nach und nach. Sie fühlte sich wohl im Schwesterndienst. Deswegen war sie jetzt froh, daß sie nicht alle Anschuldigungen gegen Mrs. Neal vorgebracht hatte, die sie auf Lager hatte. Sie waren ohnehin mehr persönlicher als beruflicher Natur. Diese Frau war sentimental, eine Friedensdemokratin, die McClellan gar nicht genug loben oder Männer wie Stevens und Stanton gar nicht genug kritisieren konnte.
Ich hätte mir denken können, daß es so ausgeht, dachte sie. Ein kleiner Seufzer brachte ihr einen Blick von dem neben ihr sitzenden Mann ein. Er bemerkte ihren Busen und setzte zum Sprechen an. Ihre Augen funkelten gefährlich, und er wechselte den Sitz.
Eine wachsende Leere erinnerte sie daran, daß sie nichts mehr gegessen hatte, seit sie in dem billigen Hotel, in dem sie die Nacht verbracht hatte, erwacht war. Sie sah Willard’s an der nächsten Ecke und stieg aus dem Wagen. Sie befand sich an der Tür zum Speisesaal, als eine Gruppe Männer herauskam.
»Kongreßabgeordneter Stout – «
Er wandte sich um. Sie hielt den Atem an – würde er sie erkennen?
Ja! Er zog den Hut, den er gerade auf sein welliges, dunkles Haar hatte drücken wollen.
»Gentlemen, entschuldigen Sie mich. Eine alte Freundin. Ich danke Ihnen; wir werden die Angelegenheit weiterverfolgen.«
Sam Stout ignorierte das leicht unzüchtige Gekicher einiger seiner Freunde und schüttelte ihr die Hand.
»Miss Hazard. Wie geht es Ihnen?«
»Freut mich, daß Sie sich an meinen Namen erinnern.«
»Hatten Sie das Gegenteil angenommen? Was tun Sie in der Stadt?«
»Ich hatte einen Termin bei Miss Dix über dringende Verwaltungsangelegenheiten. Ich habe sehr ungern das Hospital verlassen, aber es ging nicht anders. Gibt es irgendwelche Nachrichten von General Hooker?«
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