Dr. Urbans Gesicht war eine einzige, große Genugtuung. Er schlug die Beine übereinander und trommelte mit den Fingern auf seinem Knie.
«Der liebe Unruh kommt, nicht wahr? Lag ja in der Luft. Alles frei machen zum siegreichen Endkampf! Und nun wollen Sie und der Chef ein bißchen Blindekuh spielen, was? Für zehn Ampullen MO! Haltet ihr mich für verrückt?«
«Ich weiß, daß Sie nur noch einen Vorrat für zwei Tage haben, Urban.«
«Genau! Aber dann ist die Kommission wieder weg, und ich bekomme ohne diesen Betrug an Führer und Reich meine Ampullen von Ihnen — bei unserem gegenseitigen Vertrauensverhältnis.«
Lisa Mainetti schwieg. Sie erkannte, daß Urban in diesem Augenblick die Trümpfe in der Hand hielt. Solange er sein Morphium besaß und Vorrat hatte, war es unmöglich, ihn zu zwingen.
«Es ist schade«, sagte sie nach einer kurzen Spanne des Nachdenkens.»Sie haben mich überzeugt. «Sie steckte die Päckchen wieder in ihre Tasche und wandte sich ab. Langsam ging sie zum Fenster, vorbei an Urban, der noch immer fröhlich auf sein Knie trommelte.
Vor dem Fenster blieb sie stehen und sah hinaus auf die Straße. Vom Zimmer Urbans konnte man über die Mauer hinwegblicken zur Hauptwache und zur Einfahrt in den Block B.
«Was ist denn das?«sagte Lisa plötzlich und drehte sich herum.»Verlieren Sie jetzt auch noch das letzte Schamgefühl, Dr. Urban? Da unten steht Irene Adam auf der Straße und versucht, Zeichen zu diesem Fenster hinauf zu machen.«
«Unmöglich!«Dr. Urban sprang auf.»Das ist völlig unmöglich.«
Er rannte ans Fenster und riß die Gardine zur Seite. Die Straße unten war leer. Nur ein Posten pendelte durch den Schnee vor der Einfahrt hin und her.
«Wo ist sie denn?«fragte er, öffnete das Fenster und beugte sich hinaus.»Ich sehe nichts.«
Lisa Mainetti hatte die wenigen Sekunden genutzt. Während sich Dr. Urban aus dem Fenster beugte, war sie rasch an seinen Nachttisch getreten und hatte die Schublade aufgezogen. Hilf Gott, daß er es hier verwahrt, dachte Lisa. Es ist meine letzte Chance, 70 Menschen zu retten.
Unter einem Buch und einigen Taschentüchern fand sie mit schnellem Griff, was sie suchte. Einen kleinen, länglichen, verchromten Kasten. Ein Spritzenetui mit einer Spritze, drei Nadeln und drei Ampullen MO. Sie riß den Kasten aus der Schublade und stieß sie mit dem Knie wieder zu, in dem Augenblick, als sich Urban umdrehte.
Sein Blick wurde starr, als er erkannte, was geschehen war. Er streckte die Hände vor, spreizte die Finger und drückte das Kinn gegen den Hals.
Lisa wich zur Tür zurück. Sie legte die Hand auf die Klinke und drückte sie hinunter. Aber sie öffnete die Tür noch nicht.
«Wenn Sie mich anfassen, schreie ich«, sagte sie laut.»Und ich kann schreien, das wissen Sie!«
«Sie verdammtes, raffiniertes Aas«, sagte Dr. Urban heiser.»Es war ein nie wiedergutzumachender Fehler, Sie nicht ins KZ zu bringen!«
«Geben Sie mir die Liste, und Sie bekommen zehn Ampullen und Ihre Spritze zurück!«
«Und wenn ich mich weigere?«
«Dann werden Sie spätestens heute abend halb wahnsinnig herumlaufen. Sehen Sie sich doch in Ihrem Spiegel an. Sie halten es ohne MO nicht aus bis heute abend.«
Dr. Urban schloß mit zitternden Händen das Fenster. Ohne ein weiteres Wort ging er zu seinem Schrank, holte zwei Schnellhefter heraus und warf sie auf den zwischen ihm und Lisa stehenden Tisch.
«Sind das alle Durchschläge?«fragte sie.
«Ja. Halten Sie mich für einen Lumpen?«
«Genau das!«Sie trat an den Schrank heran, und Urban hinderte sie nicht, als sie die Wäsche durchwühlte. Unter seinen Hemden fand sie einen dritten Schnellhefter und warf ihn auf den Tisch zu den beiden anderen.
«Also doch ein Lump!«sagte sie dabei. Sie legte eines der versiegelten Päckchen auf den Nachttisch sowie den abgegriffenen, verchromten Kasten mit der Spritze.»Die anderen zehn Ampullen bekommen Sie, wenn Sie morgen früh das Haus verlassen!«
«Und wenn ich wiederkomme? Wenn ich den Mund nicht halte und alles der Kommission erzähle?«schrie Dr. Urban.
Lisa Mainetti nahm die drei Schnellhefter vom Tisch und klemmte sie sich unter den Arm. Dabei schüttelte sie den Kopf.
«Mut haben die Hungrigen«, sagte sie.»Sie aber sind satt wie ein Mastferkel, wenn Sie Ihr Morphium gespritzt haben!«
In den nächsten Stunden sah es auf Schloß Bernegg aus, als wolle man das Lazarett verlegen.
In den Verbandszimmern marschierten die Kranken aus dem Block A auf, begleitet vom Chef der Inneren Abteilung und einem älteren Stabsarzt. Professor Rusch hatte alles in die Wege geleitet, ein Assistenzarzt und der Famulus Baumann, assistiert von drei Ordensschwestern, saßen neben Bergen von Verbandsmaterial bereit. In Gruppen zu fünfen wurden die Kranken hereingeführt und an die Tische verteilt.
«So, nun kriegste einen Turban!«sagte Baumann zu dem ersten, der eintrat.»Was haste denn?«
«'n Magengeschwür, Kumpel.«
«Ab heute haste keine Nase und keine linke Wange mehr, verstanden?«
«Seh ick so doof aus? Wenn ick vorm Heldenklau weglaufen soll, könnt ihr mir auch die Arschbacken wegrasieren.«
«Nee, danke — dein Gesicht reicht mir!«sagte Baumann. Er begann, dicke Mullagen auf das gesunde Gesicht zu legen und sie mit breiten Leukoplaststreifen zu verkleben. Dann wickelte er einen Verband um die Stirn und ließ nur die Augen frei.»Stell dir vor, was du für Glück hast«, sagte Baumann dabei.»Wenn ich nun gesagt hätte Kieferbruch, stell dir das vor!«
«Wieso?«fragte der Verbundene.
«Dann bekämste nichts zu fressen, sondern zweimal täglich ein dickes Nährklistier.«
«Sogar det mach' ick für den Heldenklau!«
In einer Ecke des OPs standen Professor Rusch und der Chef der Inneren Abteilung zusammen. Lisa Mainetti war hereingekommen und hatte Rusch stumm die drei Schnellhefter gegeben. Sie sah, wie sein Blick sie fragte, und sie nickte zustimmend. Es war, als atme Rusch erleichtert auf.
«Sie haben die Kollegen von der Inneren eingeweiht?«fragte er den Chef von Block A. Der Oberstabsarzt, ein dicker, schwerer Mann, nickte mehrmals.
«Ich kann mich auf meine Herren verlassen, Herr Kollege. Ich habe Ihnen die Männer 'rübergeschickt, deren Entlassung besonders naheliegend ist. Ich habe nur ein Bedenken: Fällt es nicht auf, wenn Sie so viel >schwere Fälle< haben? Lauter Dreivierteltote? Ob man Ihnen das abnimmt?«
«Man wird es tun. Ich werde ihnen nur einen einzigen Fall zeigen, ein einziges völlig zerstörtes Gesicht, und man wird darauf verzichten, daß wir die Verbände der anderen abnehmen!«
«Und warum pflastern Sie nicht Ihre eigenen Leute so zu wie meine Gesunden?«
«Jeder von ihnen ist noch vor kurzem operiert worden. Wenn ich ihnen jetzt unnütze Verbände und Leukoplaststreifen anlege, die ich später abreißen muß, kann ich die frisch eingewachsenen Gewebe zerstören, neue Blutungen können entstehen, Heilvorgänge werden unterbrochen.«
«Aber das ist doch auch der Fall, wenn man sie wieder im Truppendienst verwendet!«
«Darum verstecke ich sie ja, Kollege.«
Unterdessen wurden in den Bunkern die Betten bezogen und die Räume kräftig durchgelüftet. Noch während in den OPs die Verbände angelegt wurden, ließ Dr. Lisa Mainetti die von Dr. Urban in die Liste aufgenommenen Anwärter des Heldentodes in den großen Gemeinschaftssaal kommen. Sie hatte die Verwundeten in zwei Gruppen aufgeteilt. Der größte Teil zog in die Bunker um; ein kleines Häuflein, mit bereits wieder menschlich aussehenden Gesichtern wartete abseits. Noch wußten sie nicht, was mit ihnen geschehen sollte. Man rätselte daran herum, und der Wastl Feininger, der unter ihnen war, verkündete:»Dös war a Gaudi, wenn's uns auf die Schwesternzimmer verteilen täten.«
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