Manchmal kam ihr der Gedanke, daß dieser Unterschied wohl auch vom Alter kommen könne, aber sie fühlte sich doch vor ihm schuldig und legte im innersten Herzen das Versprechen ab, sich zu bessern und das Unmögliche möglich zu machen, das heißt: in diesem Leben ihren Mann, ihre Kinder, Nikolenka und alle, die ihr nahestanden, so zu lieben, wie Christus die Menschheit geliebt hatte. Gräfin Marjas Seele strebte immer nach dem Unendlichen, Ewigen, Vollkommenen und konnte darum nie Ruhe finden.
Deshalb zeigte sich auf ihrem Gesicht der ernste Ausdruck des geheimen, hohen Leides ihrer Seele, die schwer an ihrem Körper trug. Nikolaj sah sie an. Mein Gott! Was sollte aus uns werden, wenn sie stürbe! Daran muß ich immer denken, wenn ich diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht sehe, dachte er, trat vor das Heiligenbild und fing an, das Abendgebet zu verlesen.
Als Natascha mit ihrem Mann allein geblieben war, sprach auch sie mit ihm, wie nur Mann und Frau miteinander zu reden pflegen, mit jener außerordentlichen Klarheit und Schnelligkeit im Auffassen und Mitteilen der beiderseitigen Gedanken auf einem Weg, der allen Regeln der Logik zuwiderläuft, ohne die Vermittlung des Urteils, der Vernunftschlüsse und Folgerungen, auf eine ganz besondere Art. Natascha war dermaßen daran gewöhnt, mit ihrem Mann nur so zu sprechen, daß es für sie das sicherste Zeichen einer Unstimmigkeit zwischen ihr und ihrem Mann war, wenn Pierre ihr seine Gedanken logisch auseinandersetzte. Wenn er einmal anfing zu beweisen und vernünftig und ruhig zu sprechen und sie, durch sein Beispiel verführt, nun ebenso zu reden anfing, dann wußte sie, daß dies unbedingt zu einem Streit führen mußte.
Von dem Augenblick an, da sie allein geblieben waren und Natascha mit glücklichen, weit geöffneten Augen leise auf Pierre zugegangen war, rasch seinen Kopf umfaßt, ihn an ihre Brust gedrückt und gesagt hatte: »Nun bist du ganz, ganz mein. Nun gehst du nicht wieder fort!« – hatte dieses Gespräch seinen Anfang genommen, das allen Gesetzen der Logik zuwiderlief, schon deshalb, weil beide zu gleicher Zeit von völlig verschiedenen Dingen sprachen. Diese gleichzeitige Beurteilung vieler Gegenstände war ihnen nicht nur kein Hindernis für ein klares Verständnis, sondern im Gegenteil sogar das sicherste Zeichen, daß sie einander ganz verstanden.
Wie in einem Traum alles unrichtig, sinnlos und voller Widersprüche ist, das Gefühl ausgenommen, aus dem der Traum hervorgeht, so waren auch bei diesen gegenseitigen Mitteilungen, die allen Gesetzen der Vernunft zuwiderliefen, nicht die Worte folgerichtig und klar, sondern nur das Gefühl, das sie hervorbrachte.
Natascha erzählte Pierre vom Leben und Treiben ihres Bruders, erzählte, wie sie ohne ihren Mann nicht gelebt, sondern nur gelitten habe, wie ihr Marie nur noch lieber geworden sei, und daß diese in jeder Beziehung doch besser sei als sie. Indem sie das sagte, gestand Natascha zwar Marjas überragende Vorzüge offen ein, verlangte aber dabei doch eben mit denselben Worten von Pierre, er solle sie dieser Marie und überhaupt allen anderen Frauen vorziehen und ihr dies besonders jetzt, nachdem er in Petersburg so viele Frauen gesehen hatte, noch einmal sagen.
Als Antwort auf diese Worte Nataschas erzählte Pierre ihr, wie unerträglich ihm in Petersburg bei den Abendgesellschaften und Diners die Gesellschaft der Damen gewesen sei.
»Ich habe ganz verlernt, mich mit Damen zu unterhalten«, sagte er. »Es war mir einfach langweilig. Besonders, da ich so viel zu tun hatte.«
Natascha sah ihn unverwandt an und fuhr fort:
»Marie ist zu reizend!« sagte sie. »Wie sie die Kinder versteht! Als sähe sie nur ihre Seelen. Gestern zum Beispiel war Mitenka unartig …«
»Wie er dem Vater ähnlich wird«, unterbrach sie Pierre.
Natascha begriff sofort, warum Pierre diese Bemerkung über die Ähnlichkeit zwischen Mitenka und Nikolaj machte: ihm war die Erinnerung an seinen Streit mit dem Schwager peinlich, und er wollte Nataschas Meinung darüber hören.
»Es ist eine schwache Seite Nikolajs, daß er sich mit nichts einverstanden erklärt, was nicht von allen anerkannt ist. Du aber, das kann ich verstehen, hast so etwas gerade gern: Ouvrir une carrière«, sagte sie und wiederholte dabei Worte, die Pierre selber einmal gebraucht hatte.
»Nein, die Hauptsache ist«, entgegnete Pierre, »für Nikolaj sind Gedanken und Überlegungen nur Tändelei, fast nur Zeitvertreib. Da häuft er sich eine Bibliothek auf und hat es sich zur Regel gemacht, kein neues Buch zu kaufen, bevor er nicht das vorhergekaufte gelesen hat. Werke von Sismondi [251], Rousseau, Montesquieu …« fügte er lächelnd hinzu. »Du weißt ja, wie ich ihn …« wollte er seine Worte wieder etwas abmildern, aber Natascha unterbrach ihn, um ihm zu verstehen zu geben, daß dies nicht nötig sei.
»Du meinst also, daß Gedanken für ihn nur Tändeleien …«
»Ja; für mich aber sind nur Gedanken wichtig und alles andere Tändelei. Ich habe die ganze Zeit über in Petersburg alles nur wie im Traum gesehen. Wenn mich ein Gedanke beschäftigt, so ist alles andere für mich Nebensache.«
»Wie schade, daß ich nicht dabei war, als du die Kinder begrüßt hast«, meinte Natascha. »Wer hat sich denn am meisten gefreut? Sicher Lisa.«
»Ja«, antwortete Pierre und fuhr dann wieder mit dem fort, was ihn beschäftigte: »Nikolaj sagte, wir sollen nicht denken. Aber ich kann doch nicht anders. Gar nicht davon zu reden, daß ich in Petersburg immer das Gefühl hatte – dir kann ich es ja sagen –, daß ohne mich alles auseinanderlaufen und jeder an einem anderen Strang ziehen wird. Aber es ist mir doch gelungen, sie alle unter einen Hut zu bringen, und mein Gedanke ist ja auch so einfach und klar. Ich sage ja gar nicht, daß wir diesem oder jenem entgegenarbeiten sollen. Auch wir können irren. Ich sage nur: Reicht euch die Hände, ihr, die ihr das Gute liebt, und laßt uns nur dem einen Banner folgen: werktätige Tugend. Fürst Sergej ist ein prächtiger Mensch und äußerst klug.«
Natascha zweifelte nicht daran, daß Pierres Gedanke ein großer Gedanke war, nur eines verwirrte sie dabei, und das war, daß er ihr Gatte war. Wie kann denn ein für die Gesellschaft so wichtiger und nützlicher Mensch dabei zugleich mein Gatte sein? Warum ist das so gekommen? Sie wollte ihren Zweifel zum Ausdruck bringen. Wer von allen Menschen könnte nur entscheiden, ob er wirklich um soviel klüger ist als alle anderen? fragte sie sich und ging in Gedanken all die Leute durch, die Pierre sehr hochschätzte. Nach seinen Erzählungen zu schließen achtete er aber keinen mehr als Platon Karatajew.
»Weißt du, an wen ich jetzt denke?« fragte sie. »An Platon Karatajew. Wie würde er darüber denken? Würde er dir jetzt zustimmen?«
Pierre wunderte sich nicht im geringsten über diese Frage. Er verstand den Gedankengang seiner Frau.
»Platon Karatajew?« wiederholte er, dachte nach und gab sich sichtlich aufrichtige Mühe, sich Karatajews Urteil über diesen Gegenstand vorzustellen. »Er hätte es nicht verstanden, aber übrigens vielleicht doch, ja.«
»Ich liebe dich schrecklich«, sagte Natascha plötzlich. »Schrecklich, schrecklich!«
»Nein, er würde mir nicht zustimmen«, fuhr Pierre nach einigem Nachdenken fort. »Was ihm aber gefallen würde: unser Familienleben. Er hatte immer nur den einen Wunsch: in allem Schönheit, Glück und Frieden zu sehen, und da hätte ich ihm mit Stolz unsere Familie gezeigt. Da sagst du immer, die Trennung sei etwas Furchtbares. Aber du kannst gar nicht glauben, was für ein besonderes Gefühl ich für dich nach einer solchen Trennung immer habe …«
»Das ist, weil …« wollte Natascha anfangen.
»Nein, das ist es nicht. Ich liebe dich immer, immer, und mehr zu lieben ist gar nicht möglich. Aber es ist etwas Besonderes … ja …« er sprach nicht zu Ende, denn ihre Blicke trafen sich und sagten einander alles übrige.
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