Unter dem 5. Dezember war vermerkt:
»Mitja war bei Tisch unartig. Der Papa ordnete an, daß man ihm keine Nachspeise geben sollte. Er bekam also keine. Aber während die anderen nun aßen, sah er ihnen kläglich und gierig zu. Ich glaube, das Entziehen der süßen Speise als Strafe entwickelt nur die Gier. Ich will das Nikolaj einmal sagen.«
Nikolaj legte das Heftchen beiseite und sah seine Frau an. Ihre leuchtenden Augen waren fragend auf ihn gerichtet: fand er das Tagebuch gut oder nicht? Aber es konnte gar kein Zweifel sein: er billigte es nicht nur, sondern stand sogar bewundernd vor seiner Frau.
Man hätte das vielleicht nicht so pedantisch oder vielleicht überhaupt nicht zu machen brauchen, dachte Nikolaj, aber diese stete unermüdliche geistige Anspannung, die nur das sittliche Wohl der Kinder bezweckte, erfüllte ihn mit Bewunderung. Wenn er sich seiner Gefühle hätte bewußt werden können, so hätte er gefunden, daß die Hauptgrundlage für seine feste, zärtliche und stolze Liebe zu seiner Frau immer nur dieses Gefühl der Bewunderung für ihr Gemütsleben war, für jene hohe sittliche Welt, in der sie ständig lebte und die für Nikolaj fast unerreichbar schien.
Er war stolz darauf, daß sie so klug und gut war, sah seine eigne Nichtigkeit in geistigen Dingen ihr gegenüber ein und freute sich deshalb um so mehr, daß sie mit ihrer reichen Seele nicht nur ihm gehörte, sondern ein Teil seiner selbst geworden war.
»Sehr, sehr gefällt mir das, mein Herz«, sagte er mit wichtiger Miene und fügte, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, hinzu: »Aber ich habe mich heute schlecht betragen. Du warst ja nicht mit im Arbeitszimmer. Ich hatte mit Pierre einen Streit und geriet in Hitze. Es ist ja auch rein unmöglich. Er ist ein solches Kind. Ich weiß nicht, was aus ihm würde, wenn Natascha ihn nicht im Zügel hielte. Kannst du dir vorstellen, warum er nach Petersburg gereist ist? Sie wollen dort …«
»Ja, ich weiß«, fiel Prinzessin Marja ein, »Natascha hat es mir erzählt.«
»Nun, wenn du es schon weißt«, fuhr Nikolaj fort und geriet bei der bloßen Erinnerung an seinen Streit gleich wieder in Hitze.
»Er will mir einreden, die Pflicht jedes Ehrenmannes bestehe darin, gegen die Regierung vorzugehen, wo doch Eid und Pflicht … Schade, daß du nicht dabei warst. Alle sind sie über mich hergefallen, Denissow, Natascha … Natascha ist überhaupt zum Totlachen. Man sieht doch, wie sie ihn unter dem Pantoffel hat, sobald es aber zu einem Wortgefecht kommt, hat sie keine eignen Ausdrücke, sondern redet immer nur mit seinen Worten«, fügte Nikolaj hinzu, jener unwiderstehlichen Sucht nachgebend, die Menschen abzuurteilen, die uns die liebsten sind und uns am nächsten stehen.
Es kam Nikolaj nicht in den Sinn, daß man dasselbe, was er von Natascha sagte, Wort für Wort von ihm selber hätte sagen können in bezug auf seine Frau.
»Ja, das habe ich auch schon bemerkt«, pflichtete Gräfin Marja bei.
»Als ich ihm sagte, daß Pflicht und Eid über alles gehen, fing er an, mir Gott weiß was alles zu beweisen. Schade, daß du nicht dabei warst. Was hättest du denn gesagt?«
»Meiner Ansicht nach hast du vollkommen recht. Das habe ich auch zu Natascha gesagt. Pierre denkt: alles leidet, quält sich, verdirbt, und da ist es unsere Pflicht, unseren Nächsten zu helfen. Selbstverständlich hat er darin recht«, fuhr Gräfin Marja fort, »aber er vergißt, daß wir noch andere, näher liegende Pflichten haben, die uns Gott selber angewiesen hat, und daß wir wohl uns selber, nicht aber unsere Kinder in Gefahr bringen dürfen.«
»Siehst du, das, gerade das habe ich ihm auch gesagt«, fiel Nikolaj ein, dem es wirklich schien, als habe er das tatsächlich gesagt. »Sie aber blieben bei ihrer Ansicht, daß die Liebe zum Nächsten und das Christentum … Und das alles vor Nikolenka, der mit ins Zimmer geschlüpft war und dort alles zerbrochen hat.«
»Ach, weißt du, Nicolas, Nikolenka macht mir das Herz oft schwer«, seufzte Gräfin Marja. »Er ist ein so besonderes Kind. Und ich habe immer Angst, daß ich ihn meiner eignen Kinder wegen vernachlässigen könnte. Wir alle haben Kinder, sie alle haben ihre Eltern, nur er hat niemanden. Er ist immer so allein mit seinen Gedanken.«
»Na, ich glaube doch, du brauchtest dir seinetwegen keine Vorwürfe zu machen. Alles, was die zärtlichste Mutter nur für ihr eignes Kind tun kann, hast du doch für ihn getan und tust es auch jetzt noch. Und ich freue mich darüber, selbstverständlich. Er ist ein prächtiger, prächtiger Junge. Heute hat er Pierre mit einer wahren Selbstvergessenheit zugehört. Und kannst du dir vorstellen: wir gehen zum Abendessen, und ich sehe, daß er auf meinem Schreibtisch alles entzweigebrochen hat. Aber gleich kommt er zu mir und sagt mir das. Ich habe noch nie erlebt, daß er einmal die Unwahrheit gesagt hat. Ein prächtiger, prächtiger Junge!« sagte Nikolaj noch einmal. Nikolenka gefiel ihm zwar im Grund seines Herzens nicht, aber er war immer bereit, das Gute in ihm anzuerkennen.
»Das alles kann ihm aber doch die Mutter nicht ersetzen«, meinte Gräfin Marja. »Ich fühle, daß ich es nicht kann, und das quält mich. Ein wunderbares Kind, aber ich habe schreckliche Angst um ihn. Es wäre gut, wenn er mehr Gesellschaft hätte.«
»Nun, das wird ja nicht mehr lange dauern. Diesen Sommer bringe ich ihn nach Petersburg«, erwiderte Nikolaj. »Ja, Pierre war immer ein Empörer und wird es wohl auch stets bleiben«, fuhr er fort, auf das Gespräch in seinem Arbeitszimmer zurückkommend, das ihn sichtlich sehr erregt hatte. »Aber was geht mich dies alles an, ob Araktschejew gut oder schlecht ist, und was sie sonst noch alles sagen? Was habe ich mich um all dies geschert, als ich heiratete und so viel Schulden hatte, daß sie mich ins Loch setzen wollten? Als ich die Mutter bei mir hatte, die von alledem nichts sehen und begreifen konnte. Und dann kamst du, die Kinder, die Wirtschaft. Sitze ich etwa zu meinem Vergnügen vom frühen Morgen bis zum späten Abend im Kontor hinter den Büchern? Nein, ich weiß, daß ich arbeiten muß, damit meine Mutter einen ruhigen Lebensabend hat, damit ich dir meine Schulden wieder abzahlen kann und ich meine Kinder nicht als solche Bettler zurücklasse, wie ich einer war.«
Gräfin Marja wollte ihm entgegnen, daß der Mensch nicht nur vom Brot allein lebe, und daß er diesen geschäftlichen Dingen zu große Wichtigkeit beimesse, aber sie wußte, daß es weder Zweck noch Nutzen hatte, ihm dies zu sagen. Sie nahm nur seine Hand und küßte sie. Er hielt diese Geste seiner Frau für Zustimmung, für eine Bestätigung seiner Ansichten, dachte eine Weile schweigend nach und fuhr dann in seinen Gedanken fort.
»Weißt du, Marie«, sagte er, »heute kam Ilja Mitrofanowitsch« – der Verwalter – »vom Gut in Tamlow und erzählte mir, daß ihm für den Wald schon achtzigtausend Rubel geboten seien.«
Und mit angeregtem Gesicht fing Nikolaj an, auseinanderzusetzen, daß es vielleicht möglich wäre, Otradnoje in kurzer Zeit zurückzukaufen. »Wenn ich noch so ein Dutzend Jährchen am Leben bin, lasse ich meine Kinder in glänzenden Verhältnissen zurück.«
Gräfin Marja hörte ihrem Mann zu und verstand alles, was er ihr sagte. Sie wußte, daß er sie, wenn er so laut dachte, ab und zu fragte, was er gesagt hatte, und sich dann ärgerte, wenn er merkte, daß sie an etwas anderes dachte. Aber sie mußte sich dabei große Gewalt antun, denn oft interessierte sie das, was er sagte, nicht im geringsten. Sie sah ihn an und dachte zwar nicht an etwas anderes, hatte aber ganz andere Gefühle. Sie empfand eine demütige, zärtliche Liebe zu diesem Mann, der nie all das, was sie verstand, begreifen würde, und es war, als liebte sie ihn gerade aus diesem Grund noch stärker und mit einem Anflug leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Außer diesem Gefühl, das sie ganz überflutete und daran hinderte, in alle Einzelheiten der Pläne ihres Gatten einzudringen, huschten ihr noch andere Gedanken durch den Kopf, die mit dem, was er sagte, nichts gemein hatten. Sie dachte an ihren Neffen – die Erzählung ihres Mannes von Nikolenkas Erregung während seines Gesprächs mit Pierre hatte ihr starken Eindruck gemacht – und stellte sich die einzelnen Züge seines zarten, empfindsamen Charakters vor. Wenn sie aber an ihren Neffen dachte, mußte sie zugleich auch an ihre eignen Kinder denken. Sie verglich nicht ihren Neffen mit ihnen, wohl aber das Gefühl, das sie selber für ihn und für ihre eignen Kinder hegte, und fand zu ihrem großen Kummer, daß ihrer Liebe für Nikolenka doch etwas fehlte.
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