Rachel schob sich zwischen Gretchen und Lea, klammerte sich an ihre Schwester und stimmte verängstigt in das Gebet ein. So blieben die drei eng umschlungen stehen, bis die Nacht hereinbrach und der Widerschein von Flammen in den Keller drang.
Da keine Warnrufe ausgestoßen wurden und auch keine Hilfeschreie zu vernehmen waren, nahmen sie an, dass die Plünderer die Reste zerschlagener Möbel in den Gärten angezündet hatten.
Rachel fragte nicht nach dem Schicksal ihrer männlichen Angehörigen, sondern stieß zwischen spitzen Klagelauten immer wieder den Wunsch aus, nach Hause zu wollen. Obwohl Lea vor Angst beinahe starb, zog sie ihre Schwester an sich und versuchte, sie zu trösten. Ebenso wie Rachel hatte sie sich in Hartenburg sicher und geborgen gefühlt, obwohl es dort außer ihrer Familie und ihrem Gesinde um sie herum nur Christen gab. Jakob Goldstaub und die Seinen standen unter dem Schutz des
Markgrafen, der jeden Aufruhr seiner Untertanen gegen seinen Hoffaktor und Bankier mit harter Hand unterbinden würde, davon war Lea bisher überzeugt gewesen. Nun aber kamen ihr Zweifel. Sie starrte in die von rötlichem Flackern durchbrochene Schwärze und fragte sich bang, ob Ernst Ludwig von Hartenberg sich eines Tages genauso wie Alban von Rittlage das Vermögen seiner jüdischen Untertanen mit Gewalt aneignen würde.
A ls das Flackern verlosch und klamme Kälte durch die Kleider biss, kauerten Lea, Gretchen und Rachel eng aneinander geschmiegt auf der Treppe, dem einzig sauberen Ort in dem feuchten Gewölbe, und kämpften mit der Angst, die durch die nun eingetretene Stille und die undurchdringliche Schwärze um sie herum verstärkt wurde. Als oben eine Männerstimme aufklang, sprang Gretchen mit einem Jubelruf auf und kletterte die Stiege hoch. Gleich darauf ertönte ein Scharren, als schiebe jemand den Gegenstand beiseite, mit dem Gretchens Schwiegermutter die Falltür blockiert hatte, dann ging die Luke auf, und jemand streckte eine Lampe herein.
»Gretchen, bist du da unten?«
Gretchen schoss die letzten Stufen hoch, fiel ihrem Ehemann um den Hals und küsste ihn unter Tränen. »Oh, Peter, bin ich froh, dass du wieder da bist! Ist dir auch nichts passiert? Stell dir vor, deine Mutter hat mich einfach die Treppe herabgestoßen.
Ich hätte mir die Beine brechen können!«
Wenn Gretchen gehofft hatte, ihr Mann würde sie trösten und ihr Recht geben, wurde sie bitter enttäuscht. Er packte ihre Arme so fest, dass sie vor Schmerz aufstöhnte, und schob sie mit verärgertem Gesichtsausdruck von sich weg.
»Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Was hast du dir dabei gedacht, zwei Judenbälger ins Haus zu lassen? Wenn dich jemand beobachtet hätte, wären wir alle erschlagen oder mit dem blutsaugerischen Gesindel aus der Stadt geprü-
gelt worden. Danke Gott, dem Allmächtigen, dass Mutter gescheit genug war, euch in den Keller zu sperren und alle Spuren zu beseitigen.«
Inzwischen war Lea ebenfalls die Kellertreppe hochgestiegen und baute sich vor Peter Pfeiffer auf. Der Mann sah aus, als würde er sie am liebsten wieder hinunterwerfen oder gleich umbringen, aber Lea war schon jenseits aller Furcht. »Ich bin die Tochter des Hoffaktors Jakob ben Jehuda und die Nichte Esra ben Nachums. Könnt Ihr mir bitte sagen, Herr, was mit meinen Verwandten geschehen ist?«
Peter Pfeiffer musterte sie wie eine fette Gartenschnecke in seinem Salat. »Woher soll ich das wissen? Das meiste von eurem Pack hat man zum Stadttor hinausgetrieben, nachdem man ihnen weggenommen hat, was sie uns jahrelang abgepresst haben.
Wer sich gewehrt hat, musste halt ins Gras beißen. Aber ob einer lebt oder tot ist, hat mich nicht interessiert. Je weniger von euch diebischem, gotteslästerlichem Gelichter auf der Welt herumläuft, umso besser ist es.«
Lea wäre dem Mann am liebsten mit den Fingernägeln ins Gesicht gefahren, um seine selbstzufriedene Miene zu zerkratzen, doch Gretchen schien ihre Gedanken zu ahnen und drängte sie von ihm weg. »Das ist Lea, deren Vater ich die Mitgift zu verdanken habe, von der wir alle so gut leben. Jetzt beleidigst du die Töchter unseres großzügigen Gönners und freust dich, weil es ihren Leuten schlecht ergangen ist. Ich schäme mich für dich!«
Peter Pfeiffer zuckte unwillig mit den Schultern. »Ich habe ja nichts gegen den Hartenburger Juden und seine Kinder. Aber es ist halt sein Pech, dass er ausgerechnet heute in Sarningen auftauchen musste.«
Lea stieß die Luft aus, die sie in ihrer Wut angehalten hatte.
»Mein Vater konnte ja nicht wissen, dass der hiesige Vogt die Gesetze Kaiser Friedrichs missachtet und seine Leute an die Spitze einer Mörderbande stellt.«
Abrupt drehte sich Peter Pfeiffer zu Gretchen um und hob die Hand, als wolle er sie schlagen. »Musstest du das ausplaudern, du dummes Stück? Wenn bekannt wird, was du hier herumtratschst, trifft mich Herrn Albans Zorn, und ich verliere nicht nur meinen Posten, sondern wandere ins Turmverlies, wo man mich bei lebendigem Leib verrotten lässt. Verdammt, Weib, du weißt, was es mich gekostet hat, in kaiserliche Dienste treten zu können. Warum setzt du das alles aufs Spiel?«
Lea hob das Kinn und sah dem jungen Beamten ins Gesicht.
»Wenn Ihr mir und meiner Schwester weiterhin Schutz gewährt, werden wir niemandem verraten, was hier vorgegangen ist, weder hier in der Stadt noch irgendwo anders.«
Gretchens Mann begriff Leas versteckte Drohung. Wenn er sie und ihre Schwester aus dem Haus jagte oder Rittlages Männern auslieferte, würden sie das Geheimnis so laut hinausschreien, dass es jeder hören konnte. Dem Mann war anzusehen, dass er vor Wut kochte, aber im Wissen um die Gefahr, in der er selbst schwebte, nickte er widerwillig. Er konnte ja nicht ahnen, dass Lea ihn um Gretchens Willen nicht verraten würde, denn schließlich hatte die Freundin ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um sie und Rachel zu retten.
Als Leas Blick auf ein Bündel fiel, das weiter vorne im Flur auf einer Truhe lag und von einer rußenden Un-schlittkerze beleuchtet wurde, wünschte sie Peter Pfeiffer insgeheim die Seuche an den Hals. Neben anderem Plündergut ragten eine Kapsel, die von einer Thorarolle abgerissen worden war, und ein neunarmiger Leuchter aus
Silber, wie ihn wohlhabende Juden beim Chanucka-Fest verwendeten, aus dem Tuch. Gretchens Mann hatte also auch zu jenen gehört, die das Judenviertel gestürmt hatten.
Lea hätte am liebsten vor ihm ausgespuckt, aber die Sorge um ihr eigenes Leben hielt sie ebenso davon ab wie die Hoffnung, der Mann würde ihr um Gretchens willen helfen, ihren Vater und ihre Brüder zu finden. Daher wandte sie sich ab und tat, als hätte sie nichts bemerkt. Sie musste Gewissheit haben, ob ihre Verwandten dem Pogrom entkommen waren. Ohne sich weiter um Peter Pfeiffer oder dessen Mutter zu kümmern, die vor sich hin schimpfend in einem Winkel stand, nahm sie die Lampe mit der erst halb abgebrannten Kerze von der Truhe und wollte die Tür öffnen.
Die alte Pfeifferin vertrat ihr den Weg. »Was hast du vor?«
»Ich gehe hinüber und suche nach meinen Angehörigen.«
Gretchen kam ihr nach und schlang ihr die Arme um die Schultern. »Das ist zu gefährlich.«
Ihr Mann winkte ab. »Lass sie gehen. Besser sie läuft in ihr Verderben, als dass sie uns die Nachbarn zusammenschreit, weil wir sie mit Gewalt zurückhalten. Wahrscheinlich sind die meisten schon nach Hause gelaufen oder sitzen in der Wirtschaft und vertrinken ihr Beutegut. Wenn jemand sie sieht, wird er denken, sie gehöre zu den Plünderern, die auf der Suche nach Dingen sind, die die anderen übersehen haben.«
Er trat an die Hintertür, schob den Riegel zurück und winkte Lea spöttisch hinaus. Sie hob den Kopf und ging aufrecht an ihm vorbei, obwohl sie sich am liebsten geduckt hätte und wie ein Hase davongesprungen wäre. Erst als er die Tür hinter ihr verriegelte, wurde ihr klar, dass sie nun ganz auf sich allein gestellt war, und das Herz schien ihr vor Angst stehen bleiben zu wollen.
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