So einen unfreundlichen Empfang hatte Lea von Gret-chen nicht erwartet, und daher fiel ihre Antwort eher vorwurfsvoll aus.
»Wir sind mit Vater nach Sarningen gekommen und sollen dir Grüße von deinen Eltern überbringen.«
Da Gretchens Gesicht nicht freundlicher wurde, machte sie auf dem Absatz kehrt, doch ihre frühere Freundin hielt sie fest und zog sie und Rachel nach einem ängstlichen Blick in die Nachbarschaft ins Haus.
»Kommt schnell herein, bevor man euch hier sieht!« Ihre Stimme klang panikerfüllt.
Lea ließ sich in den dunklen Flur zerren, blieb dort aber stocksteifstehen und starrte Gretchen verärgert an. »Was ist los? Ich dachte, du würdest dich freuen, uns zu sehen.«
Gretchens Hände zitterten, und sie schien den Tränen nahe zu sein. »Ihr hättet nicht kommen sollen. Heute Abend werden die hiesigen Juden überfallen und aus der Stadt gejagt.«
Lea schüttelte den Kopf. »Das wird der kaiserliche Vogt nicht zulassen. Der Kaiser hat befohlen, die Juden zu beschützen, und das hat Herr von Rittlage ja auch schon vor zwei Wochen getan.«
»Das ist richtig. Aber hinterher ist ihm klar geworden, dass er eine Gelegenheit verpasst hat, seine Gläubiger unter den einheimischen Juden billig loszuwerden. Mein Peter steht in seinen Diensten und hat mir erzählt, dass
Alban von Rittlage den bevorstehenden Zinstag und den immer noch nicht ganz verrauchten Zorn der Leute ausnutzen will, um alle Juden vertreiben zu lassen. Was für ein Unglück, dass ihr ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt hierher kommen musstet.«
Sie drängte die beiden Besucherinnen weiter ins Haus. »Ich werde euch bei uns verstecken. Es sind schlechte Leute in der Stadt, die die jüdischen Männer umbringen und ihren Frauen schreckliche Dinge antun wollen.«
Lea versuchte, sich Gretchens Griff zu entziehen. »Ich muss Vater warnen.«
Gretchen warf einen abwehrenden Blick auf ihre jüdische Tracht. »So darfst du nicht mehr hinaus. Wartet, ich gebe euch Kleider von mir, damit man euch nicht als Judas Töchter erkennt.«
»Aber ...«, begann Rachel, doch da zerrte Gretchen schon an ihrer Kleidung. Lea besann sich einen Moment und nickte.
»Es ist besser so. Wartet, ich . « Zu mehr kam sie nicht, denn in diesem Augenblick steckte eine alte Frau in schwarzer Witwenkleidung den Kopf zur Küchentür heraus.
»Wer ist denn gekommen, Gretchen?« Dann erblickte sie die beiden Judenmädchen und stieß einen schrillen Schrei aus.
»Bist du übergeschnappt, diese Teufelshuren ins Haus zu lassen?«
»Schwiegermutter, das sind Lea und Rachel, die Töchter Jakob Goldstaubs aus Hartenburg, desselben Mannes, der meine Mitgift bezahlt hat. Wir müssen sie bei uns verbergen und Meister Jakob warnen.«
Das Gesicht der Alten verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. »Einen Dreck werden wir tun! Wenn die Nachbarn mitbekommen, dass du Israels sündhafte Brut ins Haus gelassen hast, stecken sie uns das Dach über den Kopf an.«
Gretchen hob beschwichtigend die Hände. »Es hat niemand etwas gesehen. Aber wenn du die beiden jetzt aus dem Haus treibst, werden die Leute sie gewiss fragen, was sie hier zu suchen hatten.«
Die alte Pfeifferin nickte widerwillig. »Das ist wohl richtig. Da sie schon einmal im Haus sind, müssen sie auch hier bleiben.
Aber die heidnischen Fetzen, die sie jetzt anhaben, kommen herunter.«
»Ich bin schon dabei, ihnen Kleider von mir zu holen«, rief Gretchen eilfertig.
Lea sah, wie viel Angst die Freundin vor ihrer Schwiegermutter hatte, doch da ihr das Schicksal ihres Vater und ihrer Brüder mehr am Herzen lag als Gretchens Wohlergehen, hielt sie sie kurzerhand zurück.
»Ich muss hinaus und meinen Vater warnen!«
Ihre Worte veranlassten die Alte zu einem weiteren Wutausbruch. »Oh nein! Glaubst du, ich lasse zu, dass du die Leute provozierst? Wenn sie dich hier herauskommen sehen, werden sie unser Haus plündern und uns Frauen Gewalt antun! Macht, dass ihr in den Keller kommt und euch umzieht. Die Lumpen, die ihr auf dem Leib habt, müssen sofort verbrannt werden, damit man keine Spur davon bei uns findet. Und wenn euch jemand anspricht, antwortet gefälligst mit >Gelobt sei Jesus Christus!< und sagt kein Wort in eurer heidnischen Sprache, habt ihr mich verstanden?«
Die Frau sah so aus, als würde sie mit den Kleidern auch gleich die unwillkommenen Gäste verbrennen wollen, aber Lea ließ sich nicht einschüchtern.
»Bitte gebt mir ein anderes Gewand und lasst mich hinaus. Ich kann nicht hier herumstehen, während meine Verwandten in Gefahr sind.«
Gretchen umklammerte ihren Arm. »Dafür ist es schon zu spät!
Los, versteckt euch in unserem früheren Weinkeller. Dort wird euch niemand suchen.« Dann brachte sie ihren Mund an Leas Ohr, damit die alte Frau ihre nächsten Worte nicht hören konnte. »Ich laufe hinüber und warne deinen Vater. Er ist ein guter Mensch.«
Sie drängte die beiden Schwestern in einen dunklen Winkel, hob eine Falltür an und wies nach unten.
Lea schenkte Gretchen einen dankbaren Blick und stieg vorsichtig die schmalen Stufen hinab, die steil in ein diffuses Halbdunkel führten, in dem man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Es gab nur ein winziges, vergittertes Fenster, welches sich an der höchsten Stelle des tonnen-förmig gewölbten Raumes befand und so wenig Licht durchließ, dass der untere Teil des Raumes in tintiger Schwärze lag. Lea hörte Rachel über sich jammern und trat einen Schritt beiseite, damit ihre Schwester von der. wackligen Treppe auf den Boden treten konnte. Dabei stieß ihr Schienbein gegen ein Holzgestell, das krachend umfiel. Vor Schreck und Schmerz verlor sie das Gleichgewicht und landete mit den Händen in etwas Fauligem. Angeekelt richtete sie sich auf und sah zu Gretchen hinauf.
»Bitte zieht alles aus, was euch verraten könnte. Ich bringe euch gleich andere Kleider«, hörte sie die Freundin rufen, während sich ihre Schritte entfernten.
Rachel zerrte an Leas Ärmel. »Hier stinkt es. Außerdem kann ich nichts sehen! Wie soll ich da die Bänder an meinen Sachen aufknoten?«
Lea kniff die Lider zusammen, bis sich ihre Augen so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dass sie Konturen erkennen konnte. »Hab einen Augenblick Geduld. Gleich geht es besser.«
Als Rachel nicht antwortete, löste sie die Hand der Schwester von ihrem Ärmel und begann sich mit müden Bewegungen auszuziehen. Für einen Augenblick überlegte sie, wenigstens das Hemd anzubehalten, doch die Webart des Leinens und die Stickereien würden sie genauso verraten, als wenn sie den gelben Kreis darauf trüge. Also nahm sie auch das letzte Kleidungsstück auf den Arm.
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