So viel Feindseligkeit war ihm in dieser Stadt noch nie begegnet, und er nahm sich vor, seinen Schwager Esra ben Nachum, den Vorsteher der hiesigen Gemeinde, darauf anzusprechen und ihn zu warnen, denn hier braute sich etwas zusammen. Die Situation wurde ihm so unheimlich, dass er gegen alle Gewohnheit rascher ausschritt und auch seinen Kindern winkte, sich zu beeilen. Als sie die Judengasse der Stadt erreicht hatten, drängte ihn alles, das Tor in der mehr als mannshohen Mauer, die das Wohnviertel der jüdischen Gemeinde von den übrigen Straßen trennte, so schnell wie möglich zu passieren, doch der Zugang war so schmal, dass er warten musste, bis Gerschom den Wagen hindurchmanövriert hatte. Dann erst konnte er seine Kinder durch die Öffnung schieben und ihnen folgen. Als er schon aufatmen wollte, traf ihn als letzter Gruß der Gassenjungen ein Lehmbatzen am linken Ohr.
E sra ben Nachum empfing Jakob Goldstaub vor seinem Haus. Er umarmte den Gast und wischte eigenhändig einige Schmutzspuren von dessen Mantel ab. »Friede sei mit dir und deinen Kindern, Jakob ben Jehuda. Ich wünschte, ihr wärt zu einer besseren Zeit gekommen. Nun aber schüttelt den Staub der Reise von euren Kleidern und erfrischt euch.«
»Friede sei auch mit dir, Esra, und den Deinen«, erwiderte Jakob Goldstaub den Gruß. Dann drehte er sich um und zeigte auf das mittlerweile geschlossene Tor der Judengasse. »Was geht in Sarningen vor? Als ich das letzte Mal hier war, erschienen mir die Leute viel freundlicher.«
Der Hausherr hob die Augen zum Himmel und breitete die Arme aus. »Morgen ist Zinstag, und viele unserer Schuldner haben ihren Unmut über unsere berechtigten Forderungen lautstark unter die Leute getragen. Andere, meist Fremde, haben das ausgenützt, um unsere christlichen Mitbewohner gegen uns aufzuhetzen. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es kommt an einem solchen Tag immer wieder zu gewissen Missstimmungen, wenn es diesmal auch schlimmer ist als sonst. Die Leute werden sich schon bald beruhigt haben, und dann können wir wieder in Frieden leben.«
Lea vernahm die Angst, die in der Stimme ihres Onkels mitschwang, und es kam ihr so vor, als wolle er sich selbst Mut zusprechen. »In Hartenburg haben wir doch auch Zinstage. Aber dort sind die Leute nie so aggressiv geworden wie hier.«
Samuel ballte die Fäuste. »Lea hat Recht. Die Christen benehmen sich ganz anders als bei meinen früheren Besuchen. Bist du sicher, Onkel, dass sie keinen Überfall planen?«
»In einer großen Stadt wie hier gibt es immer Aufrührer und Schreihälse. Daran gewöhnt man sich, mein Junge«, erklärte Esra ben Nachum mit einer hilflosen Geste. »Wir können nichts anderes tun als abzuwarten, bis das Geschrei verstummt und die Leute andere Dinge im Kopf haben. Da uns die meisten Berufe verwehrt sind und nicht jeder von uns ein erfolgreicher Fernhandelskaufmann sein kann, verdienen wir unseren Lebensunterhalt hauptsächlich als Pfandleiher und Kreditgeber, und das bringt nun einmal solche Probleme mit sich. Schau, Samuel, die Menschen, die zu uns kommen, können nicht die Sicherheiten bieten, welche die Fugger in Augsburg oder die Lombarden von ihren Schuldnern fordern, und so gehen wir mit jedem Geschäft, das wir mit Christen abschließen, ein Risiko ein. Du wirst auch noch begreifen, dass es nicht jedem Juden so gut geht wie deinem Vater, der eine sichere Position als Hoffaktor eines Herzogs hat und seinen Geschäften ohne große Sorgen nachgehen kann.«
Lea hob die Hand. »Ernst Ludwig von Hartenstein ist kein Herzog, er trägt nur den Titel eines Markgrafen, Onkel.«
Esra ben Nachum warf ihr einen irritierten Blick zu und wandte sich mit einem verkniffenen Lächeln an seinen Schwager. »Deine Lea scheint mir immer noch ein wenig vorlaut zu sein.«
Lea fand diesen Vorwurf ungerecht und ärgerte sich gleich noch einmal, denn ihr Vater stimmte seinem Schwager entschuldigend zu. »Sie war noch sehr jung, als sie den Platz ihrer Mutter einnehmen musste. Daher hat sie nicht gelernt zu schweigen, wie es die Sitte von einer Frau verlangt.«
»Mirjam wird sich um sie kümmern.« Esra Ben Na-chum führte die Gäste in sein Haus, einen niedrigen Fachwerkbau, der von außen windschief und heruntergekommen wirkte, sich innen aber als stabil und wohlgepflegt erwies.
Jakob ben Jehudas Schwester Mirjam erwartete die Gäste in der Wohnstube. Sie war gekleidet, als bereite sie sich auf eine weite Reise vor, und trug, wie ein leises Klingeln beim Gehen verriet, wohl ihren gesamten Schmuck bei sich. Das machte Lea hellhörig. Rachel und sie trugen ebenfalls einige Schmuckstücke von Wert unter ihrer Kleidung, die bei Bedarf in gemünztes Gold umgetauscht werden konnten. Doch wenn die Tante ihren Schmuck schon im Haus unter ihren Röcken verbarg, war die Gefahr größer, als ihr Onkel zugeben wollte.
»Habt ihr Angst, aus der Stadt vertrieben zu werden, weil du deinen Schmuck bei dir trägst?«, fragte sie besorgt. »Dann solltest du aber darauf achten, dass er beim Gehen nicht klirrt. Oder willst du die Leute darauf aufmerksam machen, was du unter deinem Kleid verbirgst?«
Mirjam hob erschrocken ihre Schürze und betastete den Rock.
Nun vernahm sie es ebenfalls. »Du hast gute Ohren, Lea. Mir ist nichts aufgefallen. Aber keine Sorge, es wird schon nichts passieren. Ich bin nur etwas nervös und habe deswegen meine Sachen an mich genommen. Schau, unsere Sippe lebt schon seit mehr als zweihundert Jahren in Sarningen, und außer einem Mord an einem ortsfremden Juden ist hier noch nie etwas vorgefallen.«
Zu Hause hatte Lea etwas ganz anderes gehört, aber da die Kritik ihres Vaters noch an ihr nagte, nahm sie Mirjams Erklärung mit einem skeptischen Nicken zur Kenntnis. »Bestimmt hast du Recht. Aber habt ihr denn schon herausgefunden, was die Christen so gegen euch aufgebracht hat?«
Mirjam zuckte hilflos mit den Achseln. »Esra ist schon beim kaiserlichen Vogt vorstellig geworden, doch Rittlage hat ihn ausgelacht und gesagt, ein paar unserer Schuldner hätten im Wirtshaus Drohungen gegen uns ausgestoßen. Wir müssten uns jedoch keine Sorgen machen, denn mit betrunkenem Kopf redeten die Leute halt viel dummes Zeug.«
»Sie tun auch viel, wenn sie betrunken sind, und kennen dann kein Maß und keine Hemmungen.« Leas Stimme klang schärfer als beabsichtigt.
Miriam winkte ab und wollte ihrer Nichte schon sagen, dass sie alles viel zu schwarz sehe, aber Lea vergaß schon wieder die ihr gebotene Zurückhaltung und ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Ich finde es jedenfalls gut, dass du deinen Schmuck bei dir trägst, denn dann kannst du auf der Stelle davonlaufen, wenn die Leute euer Viertel stürmen.«
Mirjam nickte bedrückt, Rachel aber schürzte unwillig die Lippen. »Was redest du da für dummes Zeug? Wenn uns in dieser Stadt Gefahr drohen würde, hätte Vater uns gewiss nicht hierher gebracht.«
»Das ist kein Unsinn! Ein Jude ist immer und überall in Gefahr«, fuhr Lea sie an und biss sich auf die Lippen, als sie die mitleidig-verächtlichen Mienen ihrer Schwester und ihrer Tante auf sich gerichtet sah.
Die beiden mochten die üblen Vorzeichen nicht ernst nehmen und sich in trügerischer Sicherheit wiegen, bis es zu spät war, Lea zog es jedoch vor, Augen und Ohren offen zu halten. Nicht umsonst hatte sie stundenlang mit einer der ihr verhassten Handarbeiten in einer Zimmerecke gehockt und den Lehrern zugehört, die ihr Vater für Samuel und später auch für Elieser zu Gast geladen hatte.
Auf diese Weise hatte sie nicht nur gelernt, was in der Thora stand und wie man sie auslegen musste, sondern auch viel über das Leben des jüdischen Volkes und seiner Gemeinden erfahren.
Sie lächelte ihrer Schwester besänftigend zu. »Eine gewisse Vorsicht ist für uns Juden überlebenswichtig. Wenn Onkel Esra und Tante Mirjam fliehen müssen, wird es ihnen der gerettete Schmuck ermöglichen, sich in einer anderen Stadt einzukaufen.
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