Jetzt kündigte sich die entscheidende Phase an. Während mehrerer Tage hatte niemand mehr den Gesang der Stechbeitel, der Hämmer, der Schaber und der Polierer gehört. Kein Eisen störte die Stille der Baustelle, denn Meister und Gesellen erfuhren aus dem Mund des Oberbaumeisters die erforderlichen Geheimnisse, mit denen sie die Kunst des Bauzeichnens in den Raum übertragen konnten.
Die Märchenerzähler vor ihrer hingerissenen Menge hatten hundert Erklärungen, eine noch malerischer als die andere, womit sie das Fehlen des Lärms rechtfertigten. Vor allem hatten die Dämonen dank Salomos Eingreifen damit aufgehört, jede Nacht die Arbeit der Erbauer zunichte zu machen. Auf Befehl des Königs hatten sie sich geläutert und halfen beim Bau mit. Diese feindseligen Kräfte huldigten nun Salomo und waren damit einverstanden, die Handwerker zu unterstützen. Sie kamen aus der Erde, dem Wasser, der Luft, aus Ebenen und Schluchten, aus Wäldern und Wüsten, sprangen aus in den Tiefen verborgenen Metallen, aus dem Saft der Bäume, den Blitzen des Gewitters, den Wellen des Meeres oder dem Duft der Blumen und verneigten sich vor Salomo, der ihnen ihr Siegel auflegte. Daher trugen sie die Blöcke und Stämme, das Gold und die Bronze und schwebten damit über die Erde. Doch die phantasiereichsten Erzähler wußten noch viel mehr zu berichten: Ein Meeresadler mit so riesigen Schwingen, daß sie vom Morgenland bis zum Abendland und vom Süden bis in den Norden reichten, hatte Salomo einen Zauberstein aus dem Abendgebirge gebracht. Den hatte der König Hiram überlassen, der ihn in einen kostbaren Stoff gewickelt und in einen Goldkasten gelegt hatte. Es reichte, daß der Oberbaumeister einen Strich auf den Felsen aus dem Steinbruch zog und den Talisman dort ablegte, schon barst der Felsen von ganz allein. Die Steinhauer mußten die Blöcke nur noch auf die Baustelle bringen. Um diese dann an die anderen anzugleichen, brauchten sie keine Schleifsteine. Dank des Adlergeschenks fügten sie sich mit einer solchen Genauigkeit zueinander, daß kein Mörtel erforderlich war.
«Wir sind gescheitert», stellte Zadok fest. «Salomo und Hiram sind mächtiger denn je.»
Sie waren in dem Keller der Unterstadt fern von neugierigen Ohren zusammengekommen, und Elihap und Jerobeam sahen mißmutig aus. Dem Bericht des Schreibers zufolge gingen die Arbeiten am Tempel nach fünf Jahren peinlich genauer Vorbereitungen mit überraschender Schnelligkeit voran. Die Fundamente waren fertiggestellt, die ersten Steinschichten verlegt, und das Heiligtum wuchs nach einem neuen Rhythmus. Was den Palast des Königs anging, so wurde er von Tag zu Tag schöner. Der Audienzsaal war ausgeschmückt, demnächst sollte die Schatzkammer gebaut werden.
Das Volk jubelte. Die von Salomo geforderten Anstrengungen erschienen ihm leicht. Da Weisheit den König leitete und in seinem Herzen wohnte, warum sollte man ihm dann nicht blindlings trauen? Er hielt, was er versprochen hatte. Der stolze Felsen, dessen Hoffahrt Hirams Bruderschaft gemeistert hatte, war zum Diener von Gottes Tempel geworden, in dem das Licht des Friedens leuchtete.
«Diese vermaledeiten Handwerker haben keine Angst gehabt», beklagte sich Jerobeam. «Und dabei hätte das Attentat auf den Wächter eine wilde Flucht bewirken müssen. Wenn wir es noch einmal versuchen…»
«Zwecklos», hielt Elihap dagegen. «Meister Hiram nimmt ihnen alle Furcht. Sie würden ihr Leben für ihn geben und weichen keiner Drohung.»
Wütend hämmerte der rote Riese mit der Faust auf die feuchte Mauer ein.
«Dann vernichten wir eben den Baumeister!»
«Viel zu gefährlich», meinte der Hohepriester. «Den schützen die Meister und Gesellen. Und bei Nachforschungen würde Salomo sehr schnell auf uns stoßen. Wenn wir Meister Hiram angreifen, zahlen wir mit dem Leben.»
«Müssen wir also den Kampf aufgeben und uns damit abfinden, daß Salomo und Hiram triumphieren?»
«Aber keineswegs. Uns bleibt immer noch die List. Elihap, ist es wahr, daß sich einige Lehrlinge über den mageren Lohn beklagen?»
«Stimmt genau», antwortete der Schreiber. «Sie möchten gern Gesellen werden, aber Meister Hiram denkt kaum noch an Beförderungen.»
«Dann laßt uns Unruhe in der Bruderschaft säen», schlug Zadok vor.
«Aber diese Männer haben einen Eid geschworen», rief ihnen Elihap ins Gedächtnis. «Die verraten ihren Oberbaumeister nicht.»
«Jeder Mensch hat seinen Preis», sagte Jerobeam. «Wir müssen nur bereit sein, ihn zu zahlen.»
Am ersten Festtag der Schafschur und der Segnung der Herden zu Sommeranfang gab Hiram den Handwerkern der Bruderschaft frei. Sie nahmen an Festmählern teil, die von Bauern ausgerichtet wurden, die keine Antwort auf die vielen Fragen zum Fortschritt der Bauarbeiten bekamen.
Der Baumeister nahm an keiner Festlichkeit teil. Er ging in der Gegend, fern der Dörfer, in Begleitung seines Hundes spazieren.
Vor dem Tor zur Baustelle ließ er einen wütenden Kaleb stehen, der zum alleinigen Wächter ernannt worden war. Wie lang ihm die Stunden vorkamen! Wer würde schon wagen einzudringen, wo doch mehr als hundert Soldaten auf Befehl Meister Hirams über den ganzen Platz wachten, bis die Bruderschaft zurückkehrte? Der Hinkefuß fürchtete sich vor der Einsamkeit, vor allem aber bedauerte er, daß er sich bei dieser Gelegenheit nicht mit frischem Wein vollaufen lassen konnte. Niemand begehrte mehr gegen den Bau des Tempels auf. Jeder wartete ungeduldig darauf, ihn in seiner ganzen Pracht betrachten zu können. Kaleb hätte sich beim Einschenken der Becher nützlicher machen können als beim Überwachen der Leere, so wie er da im mageren Schatten der Toreinfahrt zur Baustelle saß.
Doch wie staunte, ja erschrak er, als er einen hochgewachsenen Mann mit Golddiadem und weißem Gewand mit goldener Borte auf sich zukommen sah.
Kaleb erkannte König Salomo und erzitterte.
«Niemand… niemand darf hier ohne das Erkennungswort hinein!» verkündete er mit unsicherer Stimme.
Der Herrscher lächelte.
«Mein Siegel gibt mir Zutritt zur ganzen Welt. Falls du mich hinderst, verwandele ich dich in ein wildes Tier oder einen kopflosen Dämon.»
Kaleb fiel vor Salomo auf die Knie.
«Gebieter… ich habe meine Befehle!»
«Bist du Mitglied der Bruderschaft?»
«Ein wenig… nur ein wenig… Aber ich weiß nichts Wichtiges!»
«Wenn das so ist, dann vergiß, daß ich hiergewesen bin. Halte den Mund und gib den Weg frei.»
Gehörte der Tempel nicht dem König von Israel? Wenn er ihn früher als vorhergesehen sah, was machte das schon? Selbst der Hinkefuß Kaleb gefiel sich in der menschlichen Gestalt, die ihm Gott geschenkt hatte. Da war es doch unvernünftig, wenn er sich dem königlichen Zauber entgegenstellte. Und so gehorchte er beflissen.
Salomo trat über die Schwelle und näherte sich langsamen Schrittes Hirams Reich.
Die noch vom Bauzaun verdeckten Tempelwände bestanden aus Ziegeln, die mit Holz verschalt waren. Der untere Teil setzte sich aus drei Schichten behauener Steine zusammen mit Reihen von Zedernholzbohlen, die als Verankerung dienten und den Zusammenhalt bis zum Dach sicherten. Gebälk aus Zedernholz, das in den Wänden verstrebt war, ergab ein festes Flachdach. Das Ganze vermittelte einen anmutigen und beschaulichen Eindruck. Der Baumeister hatte es verstanden, Salomos geheimste Gedanken und seinen heißen Wunsch nach Frieden, der auf der ganzen Welt erstrahlen sollte, in den Linien des Gebäudes umzusetzen.
Ins Innere gelangte er nicht hinein. Bretter und Kalksteinblöcke verwehrten ihm den Zutritt. Enttäuscht wagte sich der König auf den Teil der Baustelle, wo die Werkzeuge aufgereiht lagen und wo sich Meister Hirams Zeichenwerkstatt befand. Die Stille an dem sonst so belebten Ort machte ihn irgendwie glücklich. Er hatte das Gefühl, er arbeitete zusammen mit den Steinmetzen, er sähe ihre Handbewegungen und setzte sich nach Feierabend zu ihnen. Die Handwerker waren zwar nicht anwesend, aber dennoch verwandelte ihr Geist die Materie, als ginge das Werk von allein und auch ohne die Menschen weiter.
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