In dieser Nacht floß der Wein auf der Baustelle in Strömen. Die Handwerker tauschten ihre Erwartungen aus. Sie waren sich bewußt, daß sie an einem gewaltigen Abenteuer teilnahmen. Einzig Hirams Stimme, die ihnen durch die Bruderschaft so nahe und durch die Wissenschaft so fern war, verlieh ihnen eine unerschöpfliche Energie. Vom folgenden Morgen an würden alle Kopfschmerzen und Schlafbedürfnis vergessen, die Steinblöcke ordentlich verteilen und die Feuersteinbohrer handhaben, mit denen die Steine bearbeitet wurden.
Die Gesellen gaben ihnen mit Steinmeißeln Profil und vollendeten es mit kupfernen Stechbeiteln, auf die sie mit Holzhämmern einschlugen. Deren Klingen wurden schnell stumpf, wurden neu geschliffen und dann ersetzt.
Ein Befehl Hirams unterbrach den Gesang der Stechbeitel. Die Handwerker scharten sich um ihn. Der Oberbaumeister stellte sich auf die höchste Steinschicht, die zum Sockel des Tempels hin eine Stufe bildete. Zu seinen Füßen lagen mehrere Balken. Er stellte einen von ihnen senkrecht und verstrebte ihn mit drei Pfosten aus Fichtenholz. Dann stellte er einen zweiten Balken auf und befestigte ihn rechtwinklig am ersten, so daß er sich von unten nach oben schwenken ließ. Sodann stellte er einen dritten Balken auf und verstrebte ihn. Dann knüpfte er aus Stricken Schlingen. Zwei Meister hoben einen Block hoch, den er an das Ende des Balkens hängte, der der Achse am nächsten war. Die sieben anderen Meister zogen an den Seilen und stellten damit das Gegengewicht her, das dem Oberbaumeister erlaubte, den Block mühelos bis zur obersten, noch gedachten Schicht zu heben. Man brauchte nur noch eine zusätzliche Bohle, Hebel und Keile, und schon fügte sich auch der schwerste Stein wohlbehalten und paßgerecht an seinen Platz. So gab Hiram unter den bewundernden Blicken der Bruderschaft die Hebemethode der Erbauer der prachtvollen, ägyptischen Pyramiden preis.
Hiram rollte den Papyrus mit dem Bauplan des Tempels zusammen. Er klemmte ihn unter den Arm und ging zum äußersten Rand des Felsens, wo sich das Allerheiligste erheben würde. Alsdann steckte er die zusammengehefteten Blätter in Brand.
Der Baumeister brauchte den Plan nicht mehr. In den Flammen verschwanden die Notierungen der Proportionen und die Maße, die es jetzt nur noch in seinem Kopf gab. Das Bauwerk war Meister Hiram in Fleisch und Blut übergegangen. Er würde keinen Fehler machen, wenn er die Werkmeister und Gesellen bei der Ausführung des Aufrisses anleitete. Von jetzt an sprach der Tempel durch ihn. Das Verlangen, ihn zu erschaffen, brannte wie eine unersättliche Leidenschaft. Wenn Hiram leben wollte, mußte er bauen.
Im goldenen Licht, das zum nächtlichen Himmel hochloderte, bemerkte der Baumeister andere Flammen. In der Ferne hatte noch jemand ein Feuer entzündet, eine ungewöhnliche Antwort auf das Opfer des Oberbaumeisters. Neugierig verließ Hiram die Baustelle und ging die Palastmauer entlang. Oberhalb der Stadt Davids, der Quelle von Gihon und des Kidron-Tals machte er die Stelle aus, wo Flammen und schwarze, ekelhaft riechende Wolken hochstiegen.
Hiram kam an der von Salomos Soldaten errichteten Sperre vorbei und ging bis zum Waldsaum am Rand dieses tiefen und abgeschiedenen Tals. Dort hockten Bettler, die sich anscheinend nicht an dem Geruch brennenden Fleisches störten.
«Geh nicht weiter, Gebieter», riet ihm einer. «Das ist die Gehenna, die Müllhalde von Jerusalem. Selbst die Ärmsten der Armen wie wir wagen es nicht, weiter vorzudringen.»
«Früher», so sagte ein anderer, «hat man hier Unschuldige getötet, um Molochs Zorn zu besänftigen. Heute schüttet man Abfall und Tierkadaver hinein. Aber die alten Dämonen treiben sich hier noch immer herum…»
Die Bettler scherzten nicht, und Hiram nahm ihre Warnung ernst. Doch eine unwiderstehliche Macht zwang ihn, die Gehenna zu erforschen. Trotz des Achs und Wehs der armen Teufel ging er weiter.
Das hier war wirklich die Hölle. Dreckige Abfälle und Verschimmeltes beleidigten Augen und Nase. Der Baumeister stieg über Knochenberge. Das Feuer loderte auf dem Boden dieses Tals der Verzweiflung, dessen Schrecken menschliches Leben nicht zuließ. Dennoch lachte unten am Feuer ein zerlumpter Mann mit gerötetem Gesicht das Lachen eines Irren.
«Unrein!» schrie er Hiram entgegen. «Du bist unrein, ich allein bin rein!»
Der Wahnsinnige hatte auf den Händen Tätowierungen, die Moloch und seine Dämonen mit blutigen Lefzen darstellten.
«Geh nicht weiter! Dazu hast du kein Recht!»
Für einen Augenblick fiel das Licht auf eine massige Form, die mit Unrat bedeckt war. Der Baumeister trat näher.
«Bleib stehen! Nur ein reines Wesen darf diesen Stein berühren!»
Mitten in der Gehenna thronte ein riesiger Block aus rosa Granit. Hiram dachte an die Lehren seiner Meister. Handelte es sich dabei etwa um den vom Himmel gefallenen Stein, den Schatz, den der Erschaffer der Menschen den Handwerkern geschenkt hatte, damit sie darauf Gottes Heiligtum erbauten?
Der Besessene stand auf, er hatte sich jäh beruhigt.
«Faß diesen Block nicht an, Oberbaumeister! Den wird keine Gewalt aufheben, weder die des Himmels noch die der Hölle.»
Hiram achtete nicht auf die Beschwörungen. Als seine Hand den vollendet polierten Stein berührte, da wußte er, daß dieses Meisterwerk aus Ägypten stammte. Nur einem Schüler aus dem Haus des Lebens konnte es gelingen, diese schwarz-rosige Oberfläche so zu glätten.
«Vergiß ihn», drängte der Besessene. «Geh, geh fort! Wenn du nicht gehst, wird dein Werk zerstört!»
Der Wahnsinnige stieß einen Schrei aus, der zum Himmel stieg. Mit einem Satz warf er sich in die Flammen. Seine Lumpen fingen Feuer, seine Haare verwandelten sich in eine Fackel. Er starb, ohne zu lachen.
Hiram war zwar entsetzt, verspürte aber dennoch eine lebhafte Freude.
Er hatte den Eckstein des Tempels gefunden.
Nachdem sich eine Hundertschaft Fronarbeiter einen Weg durch den Unrat der Gehenna gebahnt und den Block vom Schmutz befreit hatte, versuchten Hiram und seine Werkmeister vergebens, ihn von seinem Platz zu schaffen. Zunächst mußte man tiefe Gräben ausheben und haltbare Flaschenzüge bauen.
Salomo kam begleitet von General Banajas und seinem Schreiber Elihap, um das Wunder zu bestaunen. Auch er berührte ehrerbietig den Stein.
«Wie willst du diesen Block verwenden?»
«Als Fundament für das Allerheiligste», antwortete Hiram. «Vorausgesetzt, wir können ihn bewegen.»
Salomo wandte sich nach Osten, schloß die rechte Hand um den Rubin und hob das Haupt zum Himmel.
«Wo Menschen scheitern, haben die Elemente Erfolg. Hast du etwas gegen eine aufkommende Brise, Meister Hiram?»
Jetzt erhob sich ein heftiger Wind. Bösartiger als der Chamsin rüttelte er die Leiber durch, bis sie taumelten.
«Ich kenne den Windgeist», fuhr Salomo fort. «Ich weiß, wo er sich in der Unendlichkeit des Universums unweit der Ufer des Algenmeeres bildet. Er war es, der auf die Stimme des Ewigen hin die Fluten des Roten Meeres zurücktrieb und mein Volk durchziehen ließ. Heute wird seine Kraft noch stärker sein. Sie wird diesen Stein aufheben.»
Der entfesselte Sturm zwang Elihap und Banajas, Schutz zu suchen. Salomo blieb stehen, als machte er ihm nichts aus. Sein Blick kreuzte sich mit Hirams, als der Block erzitterte, als wollte er sich von seinem Leichentuch erheben. Der Baumeister zögerte nicht länger. Er bedeutete seinen Meistern, den Stein mit Seilen zu fesseln. Einer ging die Gesellen suchen. Mit Hilfe des Windes, der aus den tiefsten Gründen des Kosmos gekommen war, nachdem er unterwegs Milch verschüttet hatte, ließ die Bruderschaft den Eckstein des Tempels auf sein Ziel zurollen.
Als man sich zum Hasartha-Fest in Jerusalem versammelte, wo das Volk beim Verspeisen der Schaubrote der Übergabe der Gesetzestafeln an Moses gedachte, suchte Hiram noch immer die hochragenden Zypressenstämme, deren duftendes Holz den Boden des Tempels bedecken sollte. Dann überzeugte er sich von dem hervorragenden Zustand der Ölbäume, die er vor einem Jahr auf dem Lande ausgesucht hatte. Diese sonnengesättigten Bäume, die an die fünfundzwanzig Ellen hoch und mindestens vierhundert Jahre alt waren, sollten das Material für die symbolischen Bildwerke abgeben, mit denen er das Heiligtum schmücken wollte. Die in den Steinbrüchen behauenen Steine, die auf Granitsockeln standen, bildeten eine beeindruckende Reihe, die nur darauf wartete, dem Bau eingefügt zu werden.
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