Elihap hatte Angst. Er fand sich gegen seinen Willen in eine Verschwörung hineingezogen und war jetzt zur Teilnahme gezwungen, denn lebend würde Jerobeam ihn nicht aus diesem Keller herauslassen, falls er sich gegen die Pläne des Hohenpriesters stellte. Der Schreiber hatte Gewissensbisse, weil er einen König verriet, der ihm in der Not geholfen und ihm ein beneidetes Amt verliehen hatte. Trotz der damit verbundenen Gefahren hätte er ihn verteidigen, hätte er den Aufständischen deutlich machen müssen, daß sie irrten, hätte sie davon überzeugen müssen, Salomo treu zu bleiben. Doch Elihap war nicht zum Helden berufen. Er hatte nur ein Leben. Unseligerweise wich sein mächtiger Beschützer vor Mißgeschick und zunehmender Gegnerschaft gegen seine Politik zurück. Wer hätte da nicht die Pflicht, für die Zukunft zu sorgen, für die eigene? Und hatte Zadok nicht Recht, wenn er in dieser schwierigen Zeit eingriff, in der der Herrscher seine Macht durch einen fremdländischen Oberbaumeister geschmälert sah? Wollte Hiram etwa nicht den Thron stürzen und seine Bruderschaft herrschen lassen? Sich nicht dagegen zu wehren war ein Verbrechen.
«Ich stimme mit dir überein», erklärte Elihap.
Der Hohepriester umarmte Salomos Schreiber, das wichtigste Zeichen für Freundschaft.
«Du bist ein mutiger Mann», sagte Zadok. «Mit dir zusammen bauen wir Israel.»
«Welche Stellung nimmt Banajas ein?»
«Der General ist ein sehr schlichter Mensch. Er kann nur das Schwert führen. Unser Tun muß geheim bleiben, unsere Gesichter undurchschaubar. Es wäre ein Fehler, ihm zu bald von unseren Plänen zu berichten. Doch er ist mit allem einverstanden und gehorcht uns im geeigneten Augenblick.»
Jerobeam jubilierte. Vor ihm öffnete sich eine glänzende Laufbahn. Morgen würde er König von Israel und oberster Heerführer sein. Den alten Banajas schickte er dann in eine provinzielle Residenz aufs Altenteil, Zadok in Davids alte Kapelle. Elihap würde er des Hochverrats anklagen und dann die uneingeschränkte Macht haben und das größte Heer ausheben, das jemals in Israel zusammengekommen war. Er würde Tyros und Byblos einnehmen, dann die Marschen des ägyptischen Deltas angreifen, die Truppen des Pharaos vernichten und siegreich in die stolze Stadt Tanis einziehen.
Dank Elihap hätte er Kenntnis davon, wie Salomos Verwaltung arbeitete, so als leite er selbst den Staat. Da er den König im Herzen seines Palastes ausspionierte, konnte dieser ihn nicht überrumpeln. Blieb nur noch ein letztes Hindernis: Hiram und seine Bruderschaft.
«Wie willst du vorgehen?» fragte Elihap.
«Du wirst uns von Salomos Absichten berichten», erwiderte Zadok.
«Wache über seine Beziehungen zu Hiram», fügte Jerobeam hinzu. «Wir wollen ihren unseligen Bund vernichten.»
«Ihren Bund…», wiederholte der Schreiber zweifelnd. «Ist das der richtige Ausdruck dafür? Zuweilen habe ich das Gefühl, sie sind Blutsbrüder, und nichts kann ihre Freundschaft zerstören. Das ist zweifellos ein Trugschluß. Salomo verabscheut Hiram. Dessen Ruf kränkt seine Eigenliebe. Wenn der Tempel gebaut ist, wie will er ihn dann loswerden? Trotz der Gerüchte, die nur von Hiram selbst stammen können, weiß jeder, daß der Oberbaumeister Jerusalem nicht vor Fertigstellung seines Meisterwerks verlassen wird. Sein Ruf ist ihm wichtiger als Salomos, und gewiß möchte er den genießen.»
«Darum verhindern wir ja auch den Bau dieses unnötigen Heiligtums», bestätigte Zadok. «Salomo wird es uns danken.»
«Er wird uns hassen, weil wir das Unternehmen vernichten, das seine Herrschaft krönen soll», wandte Elihap ein.
«Dieser Herrscher ist ein Tyrann und ein Narr», meinte Jerobeam. «Er verdient es nicht mehr, Israel zu regieren.»
«Den Bau des Tempels verhindern… Wer könnte das schon?»
«Ich», antwortete Jerobeam.
Geduckt näherten sich die beiden Fronarbeiter dem Eingang zur Baustelle. Hier hatten nur die Mitglieder der Bruderschaft Zutritt. Die Fundamente des Tempels wurden gerade fertiggestellt, und Hiram ließ keinen Unbefugten mehr durch. Wer am Bau teilnahm, hatte dem Oberbaumeister den Treueeid geleistet und geschworen, die Geheimnisse zu wahren, die er zu sehen und zu hören bekommen würde.
Hiram berichtete von den regelmäßigen Fortschritten des Werks, weigerte sich jedoch, die angewandten Techniken preiszugeben. Der Baumeister wurde immer scheuer und entzog sich selbst kurzen Unterhaltungen mit dem Herrscher. Dauernd rief ihn die Arbeit auf den Felsen, wo das Heiligtum hinter dem Bauzaun wuchs.
Die Arbeiter hielten inne. Das Tor zur Baustelle wurde von zwei Wärtern bewacht, einer innen, der andere außen. Bis dahin kam man leicht. Die von Jerobeam bestochenen Soldaten hatten die Boten des Fronvogts durchgelassen. Der weitere Teil der Unternehmung war nicht so einfach. Machten Hirams Handwerker ihre Runden? Waren hinter den großen, am Eingang aufgehäuften Blöcken Späher aufgestellt?
Die Arbeiter beobachteten in der blauen Abenddämmerung, daß der Wächter im Schneidersitz zusammengesunken dasaß, er schien zu schlafen. Als die von Jerobeam Ausgeschickten nichts Ungewöhnliches bemerkten, standen sie auf. Einer ging auf den Wachposten zu. Der andere hatte ihm eine Fackel gegeben, die er an einem Kohlenbecken entzündet hatte.
Der Wächter schreckte von dem Licht geblendet hoch und wachte auf.
«Wer bist du, Freund?»
«Ein Handlanger, der auf der Baustelle des Tempels arbeiten will.»
«Geh nach Haus. Meister Hiram stellt niemanden mehr ein.»
«Das hat man mir anders berichtet.»
«Dann hat man dich getäuscht.»
«Das ist mir mal eine eingebildete Bruderschaft… Wer Geheimnisse hütet, ist entweder ein Angsthase oder ein Verschwörer.»
«Geh fort, sonst bekommst du meinen Stock zu spüren!»
«Nicht, ehe du nicht von mir bestraft worden bist!»
Und der Handlanger zündete mit der Fackelspitze, die er wie ein Schwert handhabte, die Kleider des Wächters an. Als der Unselige um Hilfe rief und sich vor Schmerzen schreiend auf dem Boden wälzte, rannten die beiden Fronarbeiter davon.
Das Attentat löste einen großen Tumult aus. Der schlimm verbrannte Wächter wurde im Palast von Salomo höchstpersönlich gepflegt. Der Zauber des Königs, die Salben aus Sais, der Stadt der ägyptischen Ärzte, und die Feigenpflaster ließen ihn wieder genesen. Trotz der Nachforschungen, die vom Oberhofmeister und Schreiber geführt wurden, konnten die beiden Verbrecher nie gefunden werden.
Hiram hatte sich entschieden gegen einen Sperrgürtel bewaffneter Wächter rings um die Baustelle gewehrt. Trotz des Risikos, das sie dabei eingingen, sorgten die Brüder der Bruderschaft weiterhin selbst für ihre Sicherheit.
Der König verfaßte einen Erlaß, daß jeder auf der Stelle gesteinigt würde, der einem Meister, einem Gesellen oder Lehrling Leid antat. Niemand konnte ohne Passierschein, eine Holztafel mit Salomos Siegel, zum Gipfel des Felsens.
Im Volk rumorte es. Jeder fand, Salomos Abhängigkeit von Hiram werde zunehmend besorgniserregender. Gab der König nicht allen Forderungen seines Oberbaumeisters nach? War er in dessen Händen nicht zum Spielzeug geworden? In Wirklichkeit leerte Salomo seine Schatzkammer, um die immer teureren Arbeiten zu finanzieren. Hiram sortierte fehlerhafte Steine aus, und wenn der Fehler noch so klein war, entfernte Säulen, die nicht die richtigen Proportionen besaßen, ließ Mauern einreißen, die ihm nicht gelungen erschienen.
Der König verzweifelte schier, denn Hiram arbeitete, als hätte er alle Zeit der Welt.
In einer windstillen und wolkenlosen Nacht rief Hiram alle Brüder zusammen. Stumm sahen die Meister dem Oberbaumeister zu. Der visierte mit Hilfe eines Zedernstocks, der an der Spitze mit einer Kimme versehen war, den Polarstern an. Sein ausgestreckter Arm wurde zu einer Verlängerung der Sterne. Die Steine sogen das unveränderliche Licht des Nordens auf. Und derart lebendig gemachte Steine würden der Zeit widerstehen.
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