Die Zeichenwerkstatt… Dieser Teil von Hirams Reich war ihm verboten. Hier nahm Jahwes Heiligtum Gestalt an. Salomo konnte nicht widerstehen, er stemmte sich gegen die Tür.
Sie ging auf.
Auf der Schwelle eine winzige Tür aus Granit, im Giebeldreieck eine Inschrift: «Du, der sich für weise hält, suche weiter nach der Weisheit.» Auf der Decke Sterne mit fünf Spitzen und dazwischen geflügelte Sonnen. Auf dem Fußboden eine Schnur mit dreizehn Knoten, die um ein versilbertes Rechteck geschlungen war. Die Krüge und Vasen in den Winkeln enthielten Zeichendreiecke und Maßstöcke aus Papyrus mit geometrischen Zeichen. Auf der hinteren Wand eine zweite Inschrift: «Belaste dich nicht mit weltlichen Gütern; dort, wohin dich deine Schritte tragen, wird es dir an nichts mangeln, falls du zu den Gerechten zählst.»
Salomo versenkte sich lange im Inneren der Werkstatt. Hiram hatte sich über ihn lustig gemacht, wollte ihm eine Lehre erteilen. Als er Kaleb zum Hüter machte, hatte der Oberbaumeister gewußt, daß er der Neugier, die den König zwangsläufig zur verlassenen Baustelle ziehen würde, kein Hindernis in den Weg stellte. Worte und Gegenstände waren absichtlich für den aufdringlichen Besucher angebracht worden.
Der König fühlte sich in seiner Eitelkeit getroffen, der Eitelkeit eines Tyrannen. Doch Salomo hatte das Gefühl erfahren, daß er von jetzt an zu einer Bruderschaft gehörte, die, anstatt ihn zu demütigen, seine Liebe zur Weisheit bestärkte.
Gern hätte auch er die Werkzeuge gehandhabt, hätte die Wärme einer Bruderschaft genossen und sich an der Vollkommenheit einer fertigen Arbeit gefreut.
Doch er war der König, und kein anderer als er selbst konnte den Weg gehen, den Gott vorgezeichnet hatte.
War ein Sohn nicht die Krone der Greise, ein Ölbaumzweig, der unter einem strahlenden Himmel heranwachsen sollte, der Pfeil in den Händen eines Helden, der Lohn der Weisen? Ja, ein Sohn würde ein Segen sein.
Die Königin von Israel wollte Salomo einen Sohn gebären, und dabei halfen ihr mehrere weise Frauen, die sie auf den Gebärstuhl setzten. Der König malte sich bereits den köstlichen Augenblick aus, wenn er den kleinen, gewaschenen, mit Salz abgeriebenen und in Windeln gewickelten Körper in den Armen hielt, ehe er ihn zahlreichen, jubelnden Helferinnen zeigte. Der Herrscher durchlebte die Beschneidungszeremonie. Säuberlich würde der Priester die Vorhaut entfernen und ein Pflaster aus Öl, Kümmel und Wein auf die Wunde legen. Dazu würde der Vater den Sohn auf die Knie nehmen, seinen Schmerz mittels seines Zaubers stillen und ihm von seiner Zukunft als Thronerbe erzählen. Er würde ihn lehren, daß jemand, der nicht den Stock gebrauchte, sein Kind hassen müsse. Irrsinn und Verderben warteten auf den, den der Vater nicht auf den Himmel ausrichtete.
Nagsaras Wehgeschrei machte Salomo besorgt. Die junge Frau litt aufgrund der himmlischen Strafe, mit der die Geburt des Menschen bis zum Ende der Zeit belegt war.
Dann wurde sie entbunden.
Eine weise Frau reichte Salomo das Neugeborene.
Der König wies es zurück.
Nagsara hatte ihm keinen Sohn, sondern eine Tochter geschenkt.
Da die Mutter als unrein galt, mußte sie achtzig Tage lang abgeschieden leben. Es war ihr verboten, ihr Zimmer zu verlassen.
Nagsara weinte unaufhörlich. Wie konnte sie Vergebung erlangen? Wenn sie Salomo einen Sohn geschenkt hätte, das Herz ihres Gemahls wäre ihr sicher gewesen. Dieses kleine Mädchen, das sie noch nicht einmal sehen wollte, war eine Beleidigung für Israels glorreichen König.
Als sich Salomo zu einem Besuch herabließ, flehte Nagsara um Nachsicht.
«Laß uns dieses Mißgeschick vergessen, mein Gebieter! Ich schwöre dir, daß ich einen Sohn empfange!»
«Mich plagen andere Sorgen. Ruhe dich aus, Nagsara. Du bist erschöpft.»
«Nein… ich komme mir stark vor. Ich möchte aufstehen und dir dienen.»
«Keine Dummheiten. Vertraue dich den Händen deiner Dienerinnen an.»
«Aber ich brauche deine.»
Salomo ließ sich nicht rühren.
«Die Verwaltung des Landes erfordert fast die ganze Zeit meine Anwesenheit.»
Der jungen Frau schnürte sich die Kehle zusammen. Sie wollte nicht glauben, daß sie scheitern könnte.
«Wann sehe ich dich wieder?»
«Ich weiß es nicht.»
«Willst du damit sagen, daß… du mich verstößt?»
«Du bist die Tochter des Pharaos und meine Gemahlin. Durch deine Anwesenheit hat Siamun die Geschicke Ägyptens mit denen Israels verbunden. Ich werde weder dieses Bündnis noch unseres brechen und dich niemals verstoßen.»
Hoffnung trotz des schwarzen Himmels. Nagsara geriet in Begeisterung.
«Dann ist deine Liebe noch nicht tot… Erlaube mir, an deiner Seite zu bleiben. Ich will schweigen, ich will noch flüchtiger als ein Schatten, noch durchsichtiger als ein Sonnenstrahl, noch lauer als die Herbstbrise sein.»
Salomo streckte Nagsara die Hände hin, die sie leidenschaftlich küßte.
«Nagsara, ich kann dich nicht anlügen. Ich habe dich geliebt, doch diese Flamme ist erloschen. Die Leidenschaft ist geflohen wie ein Pferd, das sich in die großen Weiten verliebt hat. Wie bei meinem Vater springt mein Verlangen von Hügel zu Tal, von Anhöhe zu Gipfel. Keine Frau wird mich jemals ganz besitzen.»
«Und ich besiege meine Rivalinnen! Ich zerreiße sie mit den Nägeln und werfe ihre Kadaver zum Abfall der Gehenna!»
«Beruhige dich, liebe Gemahlin. Haß nährt keine Liebe.»
«Mir ist nur deine Zuneigung wichtig. Ich werde all meine Kraft darauf verwenden, sie zu erlangen.»
«Du hast meine Achtung.»
«Die reicht mir nicht, und sie wird mir niemals reichen.»
Salomo entfernte sich. Wenn er doch die gleiche Leidenschaft wie die junge Ägypterin empfinden könnte! Doch welcher Mensch vermochte es, es mit dem Tempel aufzunehmen? Denn nichts anderes erfüllte das Herz des Königs. Nur ihm würde von jetzt an seine Liebe gehören. Die Lust war nur eine flüchtige Erregung und eine Zerstreuung des Körpers. Der Tempel verlangte Israels ganzen Herrscher.
Als er ihr Schlafgemach verlassen hatte, beschloß die Königin trotz ihrer Schwäche, die Flamme zu befragen. Wie viele Lebensjahre würde sie ihr dieses Mal rauben, wenn sie ihr die Wahrheit enthüllte?
Am Ende ihrer Hellseherei fiel Nagsara in Ohnmacht und war mehrere Stunden lang bewußtlos.
Als sie erwachte, wußte sie Bescheid.
Es war nicht das Gesicht einer Rivalin, das sie in der bläulichgoldenen Flamme des Jenseits gesehen hatte, sondern ein riesiges Bauwerk mit glänzenden Steinen, das über einer jubelnden Stadt thronte.
Jerusalems Tempel. Salomos Tempel.
So hatte also Jahwes Heiligtum in Salomo alle Zärtlichkeit für die Frau abgetötet, die ihr Leben für ihn hingab. Wie konnte man Tag für Tag gegen ein Wesen aus Stein kämpfen, das immer mächtiger wurde, wenn man nicht den traf, der es wachsen ließ, den Baumeister Hiram?
Und nun wandte sich Nagsara um Hilfe an die Göttin Sechmet, die Schreckliche, die Zerstörerin, die Verbreiterin von Krankheiten.

«Der Tempel ist fertig», verkündete Hiram. «Sechs Jahre lang hat meine Bruderschaft an dem großen Werk gearbeitet. Heute, König von Israel, wollen wir ihn dir übergeben.»
Salomo erhob sich, stieg die Stufen der Estrade hinunter, auf der er thronte, und blickte seinem Baumeister in die Augen.
«Möge Gott seine Diener beschützen. Führe mich hin zu Seiner Wohnstatt, Meister Hiram.»
Nebeneinander traten die beiden Männer aus dem Palast, überquerten den großen Hof, der in gleißende Sonne gebadet lag, betraten den geheiligten Bezirk und schlugen einen Durchgang ein, der die Wohnstatt des Königs mit der Jahwes verband.
Читать дальше