Ganz nach meiner Absicht sagte Marcellus schließlich: »Höre, Drusus, wenn wir sowieso zu Lupicinus gehen, könnten wir Firmus doch den Gefallen tun und seinen Brief mitnehmen. Was meinst du?«
»Warum nicht?«, antwortete ich achselzuckend. »Freunde sollten einander gefällig sein.«
»Das darf ich nicht tun«, sagte Firmus rundheraus in verbissenem Ton. »Mein Befehl lautet, den Brief eigenhändig abzuliefern.«
»Schon gut, wir wollten nur behilflich sein«, sagte Marcellus. Er trank seinen Wein und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Schankmädchen, das zu unserem Glück nichts davon bemerkte, denn es war ein langweiliges Geschöpf, das ein Bad bitter nötig gehabt hätte.
Trotz meiner Bemühungen behielt Firmus seine mürrische Laune bei. Wein zählte offenbar nicht zu seinen Schwächen. Schließlich sah er sich um, als wolle er gehen. Rasch sagte ich zu Marcellus: »Wir sollten jetzt weiterziehen. Die Mädchen warten schon auf uns.«
»Mädchen?«, fragte Firmus, der plötzlich munter wurde.
»Aber ja. Wäre schade, sie sitzen zu lassen.« Marcellus, der sonst nie grob war, unterstrich seine Worte mit einer vulgären Geste, die man häufig bei gemeinen Soldaten sieht. Die passte so wenig zu ihm, dass ich einen Moment lang aus meiner Rolle fiel und ihn anstarrte. Er fing meinen Blick auf und errötete, was er mit einem plötzlichen Hustenanfall überspielte. »Aber du willst dich sicher früh schlafen legen, wo du doch die lange Reise noch vor dir hast, Freund.«
»Erzähl mir von den Mädchen«, sagte Firmus.
Wir dachten uns allerhand Dinge aus, und während wir redeten, heftete er seinen sonst unsteten Blick auf unsere Gesichter, gespannt wie ein Jagdhund, der den Fuchs wittert. Dann wurde er redselig und sagte, er habe schon mehrere Schenken aufgesucht, in denen es Huren gebe, aber die seien nicht nach seinem Geschmack gewesen. Er bevorzuge die jungen, fügte er mit vielsagendem Blick hinzu und leckte sich dabei die Lippen.
»Ja, sicher, was sonst?«, sagte ich. Während unserer langen Verfolgungsjagd von London hatte ich schon von seinen Vorlieben gehört. Ich trank von meinem Wein und hatte plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund.
Marcellus kratzte sich am Kinn und tat so, als ob er überlegte. »Nun, dann komm doch mit uns«, sagte er schließlich und schoss mir einen heimlichen Blick zu. Ich verstand. Wir zahlten und gingen.
Der Regen hatte aufgehört. Die Nachtluft war feucht und kalt, und tief hängende Wolken verdeckten die Sterne.
Wir bogen in eine Seitenstraße ein. Nach den dicht an dicht stehenden Häusern folgten größere ummauerte Grundstücke und Kleingehöfte; das Straßenpflaster endete. Firmus verlangsamte seine Schritte. Ich spürte sein Unbehagen, das zeitweilig durch die Aussicht auf die Vergnügungen zurückgedrängt worden war. Er sah sich unruhig um und brummte irgendetwas. Beherztheit ging ihm völlig ab, selbst auf dem Weg ins Hurenhaus.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte ich betont, um Marcellus ein Stichwort zu geben.
Zur Bestätigung hielt er an der nächsten Ecke inne und sagte: »Ich glaube, es geht hier entlang. Ja, das ist der Weg, den der Mann uns beschrieben hat.« An einer Scheune bog er in einen Grasweg ein. Wir kamen an einem schäbigen, fensterlosen Gebäude vorbei und durchquerten einen offenen Hof. Irgendwo in der Dunkelheit schlug ein Hund an.
Firmus blieb stehen.
»Wo sind wir hier?«, fragte er gereizt. »Wohin wollt ihr mich führen?«
»Nicht weit«, antwortete Marcellus. »Dahinten ist ein Licht zu sehen. Ja, das ist das Haus, gleich da drüben.«
Ich hatte mich ein, zwei Schritte zurückfallen lassen. Während Marcellus nun Firmus beschwatzte, schlich ich mich von hinten an und griff in meinen Mantel. Vielleicht fasste ein Gott oder ein guter Geist Firmus an der Schulter, denn er fuhr plötzlich zu mir herum. Erschrocken sah er mir in die Augen. In diesem Moment, als wir so nahe voreinander standen, war ihm das Wissen um seinen Tod vom Gesicht abzulesen. Ich zückte mein Messer und stach zu. Er keuchte, dann röchelte er und brach zusammen.
Wir versteckten die Leiche in einem Abfallhaufen in der Nähe und machten uns auf den Rückweg. Lange Zeit sprachen wir kein Wort. Als wir die Straße mit ihren wenigen Lichtern erreichten, packte Marcellus meinen Arm und sagte: »Es gab keine andere Lösung. Das weißt du.«
»Ja, ich weiß«, sagte ich und ging weiter. »Aber dass wir vorgegeben haben, Freunde zu sein, war abscheulich. Es ist, als hätte ich meine Seele beschmutzt.«
»Das geht mir genauso. Aber es war notwendig. Er durfte nicht zu Lupicinus gelangen. Es würde den Tod von Tausenden bedeuten, wenn er gegen Julian marschiert. Wir hatten es in der Hand, wir allein.«
An der Straßenecke blieb ich unter einer Wandfackel stehen und suchte meine Kleidung und die Hände nach Blutspritzern ab. Ich hatte mich an dem nassen Gras neben dem Abfallhaufen gesäubert, so gut es ging, doch es kam mir vor, als klebte noch immer Blut an mir.
»Du hast recht, Marcellus«, sagte ich, als ich fertig war, »und ich würde es wieder genauso machen. Aber den Kampf auf dem Schlachtfeld würde ich jederzeit vorziehen.«
Er pflichtete mir bei und seufzte. Ich wusste, dass auch er die Berührung des Bösen gespürt hatte.
Und es blieb das Problem des Briefes.
Wir hatten den Toten durchsucht, aber nichts gefunden. Deshalb nahmen wir an, er müsse den Brief in seinem Zimmer gelassen haben, und kehrten in den Gasthof zurück. Nun konnten wir schlecht den Wirt wecken und fragen, in welchem Zimmer Firmus nächtigte. Deshalb schlichen wir ums Haus wie Diebe, spähten durch halb geschlossene Fensterläden, probierten Türen und stellten uns dumm und betrunken, wenn jemand aus dem Schlaf hochfuhr.
Endlich entdeckten wir das Zimmer. Dort stand ein brauner Lederranzen, in dem sich ein paar Habseligkeiten befanden. Marcellus schüttete sie auf das Bett und durchwühlte sie: ein Mithras-Amulett, ein kleines, grob gemaltes Porträt auf altem Holz von einer Frau mittleren Alters, eine goldblonde Locke in einer Schnitzdose – aber kein Brief.
Wir zogen das Bettzeug weg und fühlten unter der Matratze, tasteten die Borde ab und suchten nach verborgenen Wandnischen, fanden aber nichts. Inzwischen regten sich schon die Vögel, und das erste Grau eines elenden Morgens zeigte sich in den Fenstern.
Ich blies die Lampe aus. »Komm«, sagte ich, »hier ist er nicht.«
Zurück in unserem Zimmer zerwühlten wir die Laken, damit es aussah, als hätten wir darin geschlafen. Dann setzten wir uns und überlegten, was zu tun war.
Wir hatten die Leiche hastig und bei Dunkelheit versteckt. Nach allem, was wir wussten, mochte die Gasse bei Tage von vielen benutzt werden, und ein vorbeigehender Arbeiter auf dem Weg zu den Feldern könnte den Toten entdecken. Bei all der Aufmerksamkeit und Fragerei, die das mit sich bringen würde, durften wir nicht so lange bleiben. Schon hörte man draußen die Diener des Gasthauses unter dem Vordach gedämpft miteinander reden, während sie ihren morgendlichen Pflichten nachgingen. Deshalb gingen wir in den Stall, nahmen unsere Pferde und ritten weiter nach Westen.
Lupicinus blickte düster auf das Pergament in seiner Hand. Es war der Brief, den wir ihm von Julian überbracht hatten und der ihn nach Paris zurückbeorderte. An seinen Augen sah ich, dass er zu Ende gelesen hatte, doch er schaute nicht auf und sagte auch nichts.
In der Stille hörte ich seinen Atem geräuschvoll durch die Nüstern streichen, ein und aus, wie bei einem ungeduldigen Mann kurz vor einem Wutausbruch. Warum schwieg er? Was war verkehrt? Ich wartete. Ich wagte nicht, den Kopf zu Marcellus zu drehen.
In Chester, wo Lupicinus bei seiner gemächlichen Rückkehr nach Süden Halt gemacht hatte, waren wir endlich zu ihm gelangt. Nun, wo ich vor ihm stand, musste ich wieder daran denken, auf wie vielen Wegen ihn ein Brief Florentius’ oder ein Schreiben des Kaisers erreicht haben konnte, zum Beispiel per Schiff bis nach Nordbritannien oder über Land von Westen her, und ich fragte mich, was er vielleicht schon wusste, das ihm den wahren Charakter unseres Auftrags verraten könnte.
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