»Er hatte wohl angenommen, Lupicinus die Befehle zu überbringen und mit dem Auftrag fertig zu sein«, sagte ich.
»Wahrscheinlich. Und nun ist er gezwungen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Er würde es nie zugeben, aber damit ist er überfordert.«
»Ein Beamter, der als Soldat auftritt«, sagte ich bitter.
Eutherius nickte.
»Und er wird einen Fehler machen«, sagte er. »Wir brauchen nur zu warten.«

Ein paar Tage später machte Sintula sich bereit, mit den Soldaten, die er aus der Palastgarde ausgewählt hatte, von Paris aufzubrechen. Decentius hatte Julian angewiesen, in seinen Gemächern zu bleiben und sich nicht blicken zu lassen. Doch die Soldaten waren nicht so leicht zu täuschen. Es verbreitete sich, dass Julian unglücklich war. Die Männer waren schlecht gelaunt und misstrauisch, und in der Stadt herrschte allgemeiner Unmut.
Am Morgen des Abmarsches gingen Marcellus und ich zum Forum, um die Männer vorüberziehen zu sehen. Die Wolken hingen tief, und bei Tagesanbruch setzte ein feiner Nieselregen ein. Wir zogen unsere Kapuzen über, da wir nicht erkannt werden wollten. Am Forum angelangt, gingen wir in eine Schenke, die wir kannten und die sich klein und unauffällig in eine Kolonnadenecke duckte, neben einer Bäckerei. Der Servierjunge brachte uns verdünnten Wein und Brot und eine Platte mit Rauchfleisch und Käse. Dann warteten wir auf die Soldaten.
Es war noch früh. Ab und zu ging ein Haussklave in die Bäckerei, um die Brote für den Morgen abzuholen. Wir tranken schweigend unseren Wein, aßen und beobachteten die paar regennassen Gestalten, die den gepflasterten Platz überquerten.
Schließlich stellte Marcellus seinen Weinkelch ab, um nach allen Seiten durch die Kolonnaden zu schauen.
»Ist dir aufgefallen«, fragte er stirnrunzelnd, »dass kein anderer Laden und keine Werkstatt geöffnet haben?«
Ich sah mich um. Er hatte recht: Bis auf die Bäckerei war alles geschlossen.
»Vermutlich warten sie, bis die Männer vorbeimarschiert sind.« Doch danach behielt ich meine Überlegungen für mich.
Auf der anderen Seite des Forums, unter dem Säulenvordach eines alten, verlassenen Tempels, suchte eine Schar in Tücher gehüllter Frauen Unterschlupf vor dem Regen. Ich nahm an, sie warteten auf die Markthändler. Als ich den Kopf drehte, sah ich andere, die sich unter dem Portal der Basilika versammelten. Vielleicht lag es auch an ihrem Schweigen oder am stumpfsinnigen Ausdruck ihrer Gesichter, aber das Gespür des Soldaten in mir ließ mich über die Schulter blicken und im Hintergrund der Schenke nach einem zweiten Ausgang suchen.
Dann drang von irgendwoher das gleichmäßige, trommelschlagartige Geräusch marschierender Soldaten heran; ihre Stiefel dröhnten im Gleichschritt auf den Pflastersteinen und hallten durch die Straße. Wir drehten den Kopf zur Nordostseite des Forums, wo sie unter dem Triumphbogen durchkommen würden.
Sintula erschien als Erster, mit geradem Rücken auf einem Apfelschimmel, in seiner besten Uniform und mit gefiedertem Helm, der selbst in der grauen Dämmerung glänzte. Ein paar Schritte hinter ihm folgten die ranghöchsten Männer zu fünft nebeneinander mit ernstem Gesicht, das Marschgepäck auf dem Rücken. Sie bogen in den weiten Platz ein und hielten auf das gegenüberliegende Tor zu, von wo die Straße nach Süden führte.
Zuerst hörte man nur ihre Schritte, hart und kraftvoll, aber auch vertraut. Ich griff nach dem Weinkrug und sagte mir, meine Beklommenheit sei wohl unnötig gewesen. Doch dann erhob sich von überall und nirgendwo – wie ein schauriger Theatereffekt – ein heller Klageschrei, der mir die Nackenhaare aufrichtete und mich von meinem Sitz zog. Ich schaute erstaunt nach allen Seiten. Dann erfasste ich die Ursache.
Scharenweise stürmten Frauen wie Furien aus den Seitengassen und Torwegen, mit wehenden Tüchern und Mänteln, Säuglinge im Arm und kleine Kinder an der Hand. Sie weinten und riefen ihre Männer beim Namen, streckten ihnen die Säuglingsbündel entgegen, beschworen sie, sich ihre Söhne und Töchter anzusehen, die sie nun ihrem Schicksal überlassen würden.
Sintulas Pferd scheute und tänzelte zur Seite. Sintula selbst, aus seiner steinernen Amtsmiene hochgeschreckt, drehte sich im Sattel um. Schrecken stand ihm ins jugendliche Gesicht geschrieben.
Inzwischen hatten die Frauen die Soldatenreihen erreicht und hielten ihren Gatten die Kindchen vors Gesicht. Der Marschschritt geriet ins Stocken. Die Männer begannen die Namen ihrer Frauen und Kinder zu rufen, und die harten Soldatengesichter waren nass von Tränen.
Marcellus blickte mich verblüfft an. In der Tat war es sonderbar zu sehen, wie ein Heer von einer Horde Frauen bestürmt wurde. Die Männer wären wohl dennoch weitermarschiert, hätte sich nicht in dem Augenblick von vorn ein unbehagliches Gemurmel durch die Reihen ausgebreitet. Am gegenüberliegenden Tor hatte sich eine weitere Schar Frauen versammelt, die untergehakt den Durchgang versperrten.
Sintula starrte sie an; dann blickte er sichtlich verwirrt über die Schulter. Die vordersten Reihen begannen sich auszubuchten und aufzubrechen, als der Anblick der menschlichen Barriere die Schritte der Soldaten bremste.
»Bei den Göttern!«, rief Marcellus und sprang von seinem Stuhl auf. »Er sollte befehlen anzuhalten!«
Ich sagte nichts. Ich beobachtete Sintulas Gesicht, während er den Preis seiner Würde abwog.
Sein Mund wurde zu einer harten Linie. Voraus standen die entschlossenen Frauen, grimmige, rothaarige Gallierinnen in eisernem Schweigen.
»Macht Platz!«, brüllte Sintula.
Sie blickten ihn nur zornig an. Schon schlossen sich ihnen andere an, die von hinten herbeirannten, und bildeten eine unnachgiebige Barriere aus Menschenfleisch.
Sintulas Pferd schüttelte den Kopf und riss am Zügel. Verärgert drängte er das Tier voran, doch es widersetzte sich wiehernd. Er stieß einen lauten Fluch aus. Das Tier ging ein paar Schritte und scheute erneut. Und dann wurde Sintula plötzlich still.
Einen Moment lang starrte er nach vorn, die Zähne zusammengebissen. Dann, mit einer heftigen Armbewegung, gab er das Zeichen zum Halt. Ringsum begannen die Frauen zu jubeln und zu schreien; sie stürmten vor, scharten sich um sein Pferd und drängten zwischen die halb aufgelösten Reihen ihrer weinenden Männer.
Die Neuigkeit gelangte in Windeseile in die Zitadelle. Als wir am Tor ankamen, fragte der Wachsoldat mit leuchtenden Augen, ob es wahr sei, dass Sintula von einer Horde Weiber in die Flucht geschlagen worden war.
Auf dem Weg durch die Kolonnade zum Innenhof begegneten wir Oribasius.
»Ihr habt es gehört, nehme ich an?«, fragte er.
»Wir waren dabei«, antwortete Marcellus.
»Ihr wart dabei?« Oribasius schaute beeindruckt, und ein Lächeln huschte über sein zierliches, ernstes, beinahe weiblich anmutendes Gesicht. »Nun, Julian hat sie gewarnt. Dennoch wird man ihm die Schuld geben. Er ist jetzt mit ihnen in seinem Arbeitszimmer. Er hat nach euch gefragt.«
Ich hörte laute Stimmen, die bis auf die Treppe drangen. Als wir eintraten, fuhren grimmige Gesichter zu uns herum und schauten uns an, als hätten sie damit gerechnet, dass eine Handvoll Meuterer hereinstürmt, um sie niederzumetzeln – Decentius, der alle Aufgeblasenheit verloren hatte und gehetzt wirkte; Pentadius, dem der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand, und der Quästor Nebridius, einer von Florentius’ Leuten, den sie für ihr Vorgehen vereinnahmt hatten.
Nachdem sie jedoch gesehen hatten, wer tatsächlich gekommen war, wandten sie sich wieder Sintula zu, der aschfahl und noch in seinem Reitmantel am Fenster stand. Er musste die Soldaten zurückgelassen haben und auf dem kürzesten Weg zur Zitadelle geeilt sein.
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