Zustimmende Rufe wurden laut, einige Waffenbrüder schlugen mit der geballten Faust auf den Schild, um ihren Beifall zu bekunden.
»Unsere Gemeinschaft hat viel erreicht. Die Heilige Lanze, eine der wertvollsten Reliquien der Christenheit, wurde gefunden, und niemand von uns kann ermessen, welche Bedeutung dieser Fund für unser aller Zukunft haben wird, wenn wir erst Jerusalem erreichen, das ferne Ziel dieser Pilgerfahrt. Doch trotz aller Erfolge«, fuhr Eustace fort und ließ seinen seltsam leeren Blick über die Reihen der Versammelten schweifen, ehe er das Haupt in einer demütigen Geste senkte, »sollten wir auch auf uns selbst blicken und uns fragen, wo wir vor dem Herrn und den Gesetzen bestanden und wo wir gefehlt haben.«
Die Mitglieder der Bruderschaft leisteten der Aufforderung Folge und senkten ebenfalls die Köpfe. Um den Schein zu wahren, ließ sich auch Eleanor auf das Possenspiel ein, das sie sich selbst ausgedacht hatte, während Guillaume nicht anders konnte, als verstohlen von unten heraufzuspähen und sich einmal mehr darüber zu wundern, mit welcher Vollkommenheit sie andere Menschen zu manipulieren verstand.
Er wusste nicht, was sie Eustace angetan hatte, als sie ihn an jenem Abend zu sich bestellte. Aber von jenem Zeitpunkt an war der Herr von Privas Wachs in Eleanors dürren Händen gewesen.
»Auch ich habe gefehlt, meine treuen Waffenbrüder«, offenbarte Eustace nach einem Augenblick der Stille, in dem nur das Knistern der Fackeln zu hören gewesen war, die das Gewölbe erhellten. »Ich gestehe es Euch freimütig ein.«
»Ihr, Eustace?«, sagte Guillaume den Text auf, den seine Mutter ihm eingeschärft hatte, und kam sich dabei vor wie ein antiker Sänger im Theater. »Inwiefern?«
»Ich habe Entscheidungen getroffen, die nicht zum Besten unserer Vereinigung waren. Ich habe gezaudert, wo ich hätte mutig vorwärtsschreiten sollen. Und ich habe mich Veränderungen widersetzt, obschon sie unumgänglich waren. Doch all dies soll sich in Zukunft ändern, meine Brüder – mit einem neuen Anführer, der dieses Amtes und Eures Vertrauens würdiger ist, als ich es je gewesen bin.«
»Ein neuer Anführer?«
Ein Raunen ging durch die beiden Reihen. Verblüffte Blicke wurden gewechselt und Köpfe geschüttelt. Mit einer solchen Entwicklung hatte keiner gerechnet. Sie traf sie unvorbereitet – und genau das hatte Eleanor beabsichtigt.
Nur Guillaume kannte seine Mutter gut genug, um zu sehen, dass die leichte Verzerrung um ihren schmalen Mund ein Lächeln der Genugtuung war. Schweigend wohnte sie dem Hergang des Schauspiels bei. Die wenigsten der anwesenden Ritter hätten es geduldet, wenn eine Frau von sich aus das Wort ergriffen hätte, und doch war sie es, die das Geschehen bestimmte.
»Nein, Eustace!«, wandte Brian de Villefort, eines der wenigen noch verbliebenen Gründungsmitglieder der Bruderschaft, in aller Entschiedenheit ein. »Das kann nicht Euer Ernst sein! So viele Schlachten haben wir gemeinsam geschlagen, so vieles gemeinsam erduldet …«
»Eustace ist Euch keine Rechenschaft schuldig, Brian«, wandte Guillaume rasch ein. »Ein jeder von uns hat selbst sein Gewissen zu erforschen. Wenn es sein freier Wille ist, zurückzutreten und die Führung der Bruderschaft jemand anderem zu übertragen, so dürfen wir ihm nicht im Weg stehen.«
»Und wer soll unser neuer Anführer sein, Eustace?«, fragte de Villefort unwirsch. »Habt Ihr auch darüber schon nachgedacht?«
»Es muss jemand sein, der in der Lage ist, die Bruderschaft in die Zukunft zu führen. Jemand, der die Verantwortung großer Entscheidungen nicht scheut, so wie ich es getan habe«, entgegnete Eustace ohne Zögern und, wie Guillaume fand, mit allzu großer Beiläufigkeit. Nicht einmal als Possenspieler war er recht zu gebrauchen. »Meine Wahl, geliebte Waffenbrüder, ist auf Guillaume de Rein gefallen!«
»Nein!«, widersprach Brian entschieden.
»Warum nicht?«, ließ sich zum ersten Mal Eleanor de Rein vernehmen.
»Das will ich Euch sagen, Madame – weil Euer Sohn keiner der Unseren ist! Weder ist er Provenzale noch stammt er aus der Normandie, sondern ist aus dem barbarischen Norden zu uns gestoßen, von der Insel der Viehhirten!« Zustimmung war hier und dort zu vernehmen, Hände klopften anerkennend auf Brians breite Schulter.
»Und das macht Guillaume in Euren Augen nicht zu einem würdigen Nachfolger?«, erkundigte sich Eleanor. Ihr schwankender Tonfall verriet, dass sie mit derlei Einwänden nicht gerechnet hatte. »Obwohl er in all den vergangenen Schlachten gemeinsam mit Euch gekämpft hat? Obgleich es sein Ratschlag war, der Euch reiche Beute eingetragen hat? Der Euch am Leben gehalten hat, als andere darbten? Obwohl er es gewesen ist, der Peter Bartholomaios ins Spiel gebracht und dafür gesorgt hat, dass die Fürsten ihre monatelange Trägheit aufgegeben haben und nun wieder das eigentliche Ziel dieses Feldzugs verfolgen?«
De Villefort machte kein Hehl aus seinen Zweifeln. »Ist das wahr, Eustace? Hat Guillaume de Rein all dies für unsere Bruderschaft geleistet?«
Eustace de Privas antwortete nicht.
Schweigend stand er da, unbewegt und stieren Blickes wie ein Knecht, der darauf wartete, dass man ihm eine Anweisung erteilte. Guillaume vermittelte er den Eindruck von einem leeren Gefäß. Was sich nicht darin befand, konnte man auch nicht daraus schöpfen.
»Was ist mit Euch, Eustace?«, fragte jemand. »Habt Ihr Eure Zunge verschluckt? Wo ist Eure Entschlossenheit geblieben?«
Eustace antwortete wieder nicht, worauf unruhiges Gemurmel einsetzte. Unmut begann sich unter den Sektierern zu regen, als die Tür des Gewölbes plötzlich aufgerissen wurde. Einer der Soldaten stand auf der Schwelle, denen man befohlen hatte, den Zugang zu dem Kellergewölbe mit ihrem Leben zu bewachen.
»Was gibt es?«, fragte de Villefort, verärgert über die Störung.
»Neuigkeiten, Herr«, verkündete der Mann aufgebracht. »Die Sonne …«
»Was ist mit ihr?«
»Sie – ist verschwunden!«
»Was?«
»So wahr ich vor Euch stehe, Herr!«, bekräftigte der Wächter. »Draußen auf den Straßen herrscht finstere Nacht! Selbst die Vögel sind verstummt.«
Die Unruhe der Sektierer steigerte sich in blankes Entsetzen. Da es erst die sechste Stunde war und die Sonne somit noch weit davon entfernt, am Horizont zu versinken, war jedem klar, dass es sich nicht um ein natürliches Vorkommnis handeln konnte. Abergläubische Furcht erfasste die Ritter. Einige von ihnen rannten panisch aus dem Saal, andere begannen zu beten – und zumindest Brian de Villefort hatte keine Mühe festzustellen, wer die Verantwortung für das Verlöschen des Tageslichts trug.
»Sie ist es gewesen!«, rief er laut und deutete mit dem Finger auf Eleanor. »Diese Frau dort ist von böser Kraft erfüllt! Die verschwundene Sonne ist der Beweis dafür!«
Betroffenheit zeigte sich auf den Gesichtern. Einige Mitglieder der Bruderschaft wichen furchtsam zurück, andere bekreuzigten sich.
»Verzaubert?« wiederholte Eleanor lachend. »Macht Euch nicht lächerlich, de Villefort! Glaubt Ihr wirklich, jemand könnte die Sonne verlöschen lassen?«
»Lasst euch von ihren Beteuerungen nicht täuschen. Sie hat sich ihrer dunklen Kräfte bedient, um Eustaces Sinne zu vernebeln. Sie hat einen Zauberbann über ihn verhängt, um ihren Sohn an die Spitze unserer Bruderschaft zu bringen!«
Von Furcht und Panik angestachelt, wurden die Unmutsbekundungen immer lauter. Die Stimmung drohte gefährlich zu kippen – und Guillaume wusste, dass er handeln musste.
Die Intrigen und Ränke seiner Mutter hatten ihn weit gebracht, hatten ihm Türen geöffnet, die ohne ihr Zutun verschlossen geblieben wären, und ihm Möglichkeiten an die Hand gegeben, die er allein nie gehabt hätte. Aber nun konnte sie ihm nicht mehr helfen.
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