Johanna fuhr bei diesen Worten ein wenig zusammen, obwohl sie bereits befürchtet hatte, dass Vinsebeck seine detailfreudigen Zeichnungen nicht allein mit Hilfe seiner Phantasie hatte anfertigen können: »Macht Ihr das etwa auch?«
Er lächelte nur verschmitzt.
»Was plagt denn eure Schwangere?«, wollte er nun wissen, Johannas Frage unbeantwortet lassend.
»Frühzeitige Wehen hat sie, obwohl das Kind erst in vier Monaten erwartet wird.«
»Dann soll sie liegen und drei Mal täglich dieses Pülverchen zu sich nehmen. Zwei Prisen in heißem Tee verrührt, haben eine beruhigende Wirkung und lösen die Spannung des Mutterleibes.« In Windeseile war der Zwerg aufgesprungen, zu einem Regal geeilt und hatte mit Hilfe einer kleinen Trittleiter ein winziges, versiegeltes Tongefäß heruntergeholt. »Gewonnen aus der Keimzumpe, auch Brutblatt oder Lebenszweig genannt. Das ist ein Gewächs, dessen Keime sich leicht einnisten. Die abergläubischen Weiber behaupten, diese Pflanze übertrage als Arznei ihre Wirkung auf schwangere Frauen, indem sie dabei hilft, dass auch die menschliche Frucht sich leicht und fest einniste. Aberglaube hin oder her, das Zeug tut tatsächlich seine Wirkung. Drei Mal täglich verabreichen. Ach, bevor ich es vergesse: am besten in Johanniskrauttee geben. Auch den habe ich vorrätig, er beruhigt ebenfalls. Hinzu kommt natürlich: Ruhe, Ruhe, Ruhe! Sonst helfen die besten Arzneien nichts. Und bitte keine Birnen essen, auch wenn sie zu dieser Jahreszeit noch so verführerisch sind. Sie führen ab, nicht nur Schlacke, sondern leider auch die Leibesfrucht. Und das gilt es zu verhindern.« Er räusperte sich und machte eine kurze Pause, dann sagte er: »Nun muss ich weiterarbeiten, das Leben ist nicht zum Plauschen da. Richte deiner Herrin meine allerbesten Grüße aus und teile ihr mit, dass mir ihr unerwartetes Angebot sehr schmeichelt und mir angenehme Gedanken bereitet. Mehr richte ihr nicht aus, denn mehr vermag ich noch nicht zu sagen. Sie wird es verstehen.«
Eilig geleitete er Johanna zur Tür, ohne sich für seine Dienste und die ausgehändigten Arzneien bezahlen zu lassen, und noch bevor sie ein Wort des Dankes sagen konnte, wurde die Tür hinter ihr auch schon verriegelt.
Eine Fischer- oder Tagelöhnerhütte war es. Etwas anderes konnte es nicht sein, nicht in diesem flussnahen, häufig überschwemmten und unglaublich verwahrlosten Teil der Stadt, der aufgrund seines ungesunden Klimas einfach nur »Dunse« genannt wurde. Im Grunde durfte es Johanna nicht verwundern, dass er sich hier herumtrieb, denn sie allein wusste nur zu gut um seine wahre Herkunft, die ganz und gar nicht seinem jetzigen Erscheinungsbild entsprach. Philipp war das Kind einer Verstoßenen, einer Zauberin und Dirne, aufgewachsen in einem aus Brettern, Zweigen und Reisig gefertigten Unterschlupf. Er war Schlimmes gewöhnt, und ihn schreckte sicher eine solch elende Behausung nicht wie die, in der er vorhin verschwunden war und zu welcher Johanna nun, nach dem Besuch bei Hans Vinsebeck, zurückgekehrt war.
Dennoch fragte sie sich, wer dort lebte und bei wem er dort untergekommen war.
Was führte er nur wieder Unheilvolles im Schilde?
Johanna überlegte einen Moment, ob sie ihm mit ihren Vermutungen nicht vielleicht unrecht tat. Denn das Unheilvolle, was Philipp bisher getan hatte und von dem Johanna wusste, war es nicht immer aus der Not heraus oder in der Absicht, Gutes zu tun, vollbracht worden?
Hatte es nicht immer solche getroffen, von denen man behaupten konnte, sie hätten es nicht anders verdient?
An die schrecklichen Ereignisse aus ihren Kindertagen wollte Johanna nicht zurückdenken, aber den Gedanken an den Tod des Unholds Eicheck ließ sie nun zu. Dem Widerling war durchaus recht geschehen. Johanna hatte ihn gehasst. Sie hatte ihn, noch bevor er jemals Hand an sie gelegt hatte, glühend verabscheut, denn ebendiese Hände waren es gewesen, die sie einst zur Witwe werden ließen. Eicheck war der Mörder ihres Konrad und als solcher des Todes würdig, zumindest in Johannas Augen. Dankbar könnte sie Philipp also sein, dass er sie aus den Fängen dieses Tieres befreit hatte. Im Grunde war er ihr Retter aus der Not – und das nicht zum ersten Male.
Doch diese Gedanken waren kindisch, entsprachen mehr den Heldensagen fahrender Geschichtenerzähler als der nackten Wahrheit, die gewiss nichts mit ihr, Johanna, zu tun hatte. Denn Philipp war nicht ihr Held, ihr persönlicher Racheengel. Allein der Zufall hatte sie zweimal im Leben zusammengeführt. Und wenn sie genauer darüber nachdachte, dann durfte Johanna fest davon ausgehen, dass, hätte er sie an jenem Abend auf der Burg Eicheck in der Truhe aufgespürt, auch sie nun in zwei Teile gehauen im Grabe liegen würde. Denn ein zweites Mal hätte er sie sicherlich nicht verschont, so wie es damals, vor nunmehr fünfzehn Jahren, der Fall gewesen war.
Und jetzt schien sich eine dritte Begegnung zwischen den beiden anzubahnen. War es wieder Zufall? Würde es wieder zu einer Schreckenstat kommen? Und würde diese Schreckenstat wieder ein für Johanna glückliches Ende nehmen, während andere eines grausigen Todes starben?
Nein, das konnte, das durfte nicht sein. Sie wollte es nicht glauben, aber genauso wenig konnte sie die Augen davor verschließen, dass er nun einmal wieder aufgetaucht war – dieser Dämon.
Sein Erscheinen in Hameln verhieß nichts Gutes. Das wusste Johanna mit Sicherheit.
Doch was sollte sie dagegen tun?
Sollte sie mit ihm reden und damit ihr eigenes Leben riskieren?
Sollte sie ihn anschwärzen und damit die Dankbarkeit, die er als ihr Lebensretter verdient hatte, verraten?
Oder sollte sie abwarten und ihn beobachten, darauf hoffend, dass er genauso plötzlich, wie er erschienen war, auch wieder verschwand, ohne einen Schaden anzurichten und ohne ihrer Gegenwart gewahr zu werden?
So dachte sie, im Schlamm stehend und die bescheidene, kleine Kate anstarrend. Da vernahm sie eine tiefe, männliche Stimme hinter sich, die sagte:
»Wollt Ihr mir etwa einen Besuch abstatten, Johanna? Das hätte ich niemals zu hoffen gewagt.«
Johanna wandte sich ruckartig um und blickte in ein vertrautes, freundliches Gesicht.
Erleichtert stellte sie fest, dass es nur der Scharfrichter Justus Carnifex war. Sie hatte Schlimmeres befürchtet. Doch die Erleichterung verflog in dem Moment, in welchem sie neben dem netten Henkersgesicht einer weiteren, weniger netten, eher lüstern blickenden Visage gewahr wurde. Es war jedoch weniger seine Lüsternheit, die Johanna so erschreckte, als vielmehr die Tatsache, dass sie sich nur allzu gut an diesen Mann erinnern konnte.
Das war der Kopfabschläger.
Philipps Handlanger.
Der Mörder Wilhelms von Eicheck.
Fassungslos betrachtete sie den Mann, während Justus Carnifex zu sprechen fortfuhr:
»Nicht erschrecken, Johanna, das ist mein Bruder Till. Ein Haudegen, aber dennoch ein guter Bursche. Er tut Euch nichts, auch wenn seine Narben eine andere Sprache sprechen. Was hat Euch hierhergeführt? Darf ich Euch einen Gefallen erweisen?«
Und mit diesen Worten deutete er auf den Eingang seiner Hütte, eben der Hütte, vor welcher Johanna stand und in die auf ihrem Hinweg Philipp in aller Heimlichkeit hineingeschlüpft war.
Johanna schüttelte nur verstört den Kopf, machte dann kehrt und ging eilig zurück zum Hause ihrer Herrin, um der armen Gerda endlich die versprochene Arznei zu bringen.
XII 
Margarethe machte sich große Sorgen.
Aschfahl war das Mädchen, und sie zitterte am ganzen Leibe. Der Tee und das Pülverchen, welches Johanna vom Apotheker Vinsebeck mitgebracht hatte, zeigten kaum Wirkung. Gerdas Krämpfe waren so stark und traten in solch kurzen Abständen auf, dass sie kaum mehr ein Auge zubekam. Sie fieberte stark, doch auch die Tatsache, dass Johanna die Füße des Mädchens unermüdlich mit Salz und Essig einrieb, verschaffte ihr keine Linderung. Es sah ganz danach aus, als würde Gerda sehr bald niederkommen, und das zu einem Zeitpunkt, an dem es für das Kleine unmöglich sein würde zu überleben.
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