Ihr Weg führte sie wieder durch die breite Bäckerstraße. Es war ein wahrlich nasser, kalter Herbsttag, und Johanna stapfte schnellen Schrittes über die teils gepflasterte, teils mit Stroh bedeckte Straße, um möglichst bald wieder eine warme Stube betreten zu können. Sie hatte sich in einen langen, grünen Umhang gewickelt, damit ihr schönes Kleid nicht allzu sehr mit Unrat bespritzt und das Haar nicht nass wurde. Ihre Gedanken kreisten in diesem Moment um den Homunculus.
Ob der Apotheker Vinsebeck tatsächlich einen Toten zum Leben erwecken wollte? Wie würde er das anstellen? Etwa mit einem Wunderwasser, einem heidnischen Ritual oder gar mit teuflischer Magie?
Ein angenehmer Gruselschauder lief Johanna bei diesem Gedanken über den Rücken. Sie mochte derlei Geschichten, hatte sie schon immer gemocht und es selbst als Kind nicht lassen können, zusammen mit ihren kleinen Freunden das Haus einer als Waldhexe verschrienen Frau zu beobachten. Auch wenn ihnen dies nicht gut bekommen war. Die Erinnerung daran ließ den angenehmen in einen unangenehmen Schauder übergehen. Sie schüttelte sich kurz, um diese schrecklichen Gedanken und auch die nasse Kälte zu vertreiben.
Seither waren Jahre vergangen, und im Grunde hatte sie die Ereignisse ganz vergessen gehabt. Ihre eigenen alltäglichen Sorgen und Schicksalsschläge hatten schwerer gewogen als die bösen Kindheitserlebnisse.
Doch dann war Philipp zurückgekehrt.
Sie hatte soeben die Gasse erreicht, welche zu ihrer Rechten auf den Münsterkirchhof und zum Neuen Markt führte, da ausgerechnet erblickte sie ihn erneut. Ihn, an den sie im selben Moment gedacht hatte.
Unwillkürlich vermummte sie sich noch mehr, machte einen Buckel und neigte den Kopf in Richtung Gosse. Mit langen Schritten passierte er sie, hielt keinen Moment inne, zögerte nicht und schien sie also nicht erkannt zu haben. Johanna blieb stehen und sah ihm vorsichtig nach.
Er war es. Das stand außer Frage.
Lediglich seine Kleidung hatte er geändert. Nun war er nicht mehr der junge Edelmann, als welcher er bei Eicheck erschienen war, sondern glich vielmehr einer Amtsperson. Ganz so, wie sie es vom Fenster aus bereits gesehen hatte.
Wieso nur hatte er sich wieder verkleidet?
Sie wusste nur zu genau, dass er weder ein Edelmann noch ein Studiosus oder ein Ratsherr war.
Irgendetwas führte er also im Schilde.
Und Johanna schwante, dass es nichts Gutes war.
Ihren Auftrag für einen Moment vergessend, begann sie ihm zu folgen. Sie war von Kopf bis Fuß in ihren Umhang gehüllt, und außerdem erlaubte das dichte Netz des Nieselregens ohnehin nur eine schemenhafte Wahrnehmung der Umgebung. Er würde sie sicher nicht bemerken, geschweige denn erkennen.
Nach nur wenigen Schritten bog er in den engen Durchgang zwischen zwei Häusern ein und lief dann über matschige Hinterhöfe und an Tagelöhnerunterkünften vorbei in Richtung Weser. Hier waren die Gassen eng und dunkel, es stank nach Müll und verrottendem Fisch. Kinder spielten im Matsch, Ratten kreuzten selbst am helllichten Tag ihren Weg. Johanna versuchte, Philipps davoneilende Gestalt im Auge zu behalten. Doch das war in der düsteren, vom Regenschleier verhangenen Enge dieses Viertels kaum möglich.
Sie sah ihn gerade noch in der niedrigen Türe einer kleinen Kate verschwinden, als sich ihr plötzlich eine verwahrloste Gestalt in den Weg stellte.
»Stockfisch, junges Weib? Stockfisch? Riecht noch gut. Probier einmal. Halt dein Näschen dran. Riech, riech!«
Angewidert wandte Johanna sich von dem elenden Mann mit dem fast schwarzen, verdorrten Fisch in den Händen ab. Sie empfand wenig Lust, an diesem getrockneten, aber nun vom Regen bereits wieder aufgeweichten Tier zu schnuppern. Vielmehr versuchte sie, sich die Stelle zu merken, an der sie Philipp hatte verschwinden sehen.
Sie würde wiederkehren.
Sie musste wissen, was er hier trieb.
Sie musste es wissen, weil sie befürchtete, dass sein Erscheinen in dieser Stadt kein Zufall war.
»Komm nur herein, aber verriegele bitte die Türe gut.«
Der kleine Vinsebeck hatte sie mit einem geheimnisvollen, ja verschwörerischen Gesichtsausdruck begrüßt, als Johanna seine Offizin betrat. Jetzt verschwand er, ohne sie nach dem Grund ihres Besuchs zu fragen, in seinem berüchtigten Hinterraum, und nachdem sie tatsächlich die Außentüre fest verschlossen hatte, rief er: »Tritt nur näher, Mädchen.«
Durfte sie nun tatsächlich diesen besonderen Raum betreten?
Johannas Herz begann wild zu klopfen. Vorsichtig schaute sie um die Ecke und erwartete, dass sich vor ihr ein grausiges Schreckensszenario auftat.
Doch dem war nicht so.
Vinsebeck saß, mit zwei kleinen, runden Augengläsern auf der Nase, an einem Tisch voller Blätter, welche weniger mit Buchstaben als vielmehr mit Zeichnungen versehen waren.
Schönen Zeichnungen.
Schön jedoch nur in dem Sinne, dass sie äußerst lebensnah gefertigt waren. Denn das, was Johanna unschwer auf ihnen erkennen konnte, war alles andere als schön.
Da waren abgetrennte Gliedmaßen gezeichnet, aus denen sogar noch blutige Stränge und Fetzen heraushingen. Herzen, Nieren, Lebern, Gehirne und andere Innereien waren auf weiteren Blättern zu sehen – alles Dinge, welche Johanna nur zu gut kannte, jedoch lediglich von Schweinen, Rindern und sonstigem Schlachtvieh. Diese hier sollten aber das Innere eines Menschen darstellen, was man unschwer an den Umrissen des Körpers erkennen konnte, welcher nur schemenhaft und leicht um ebendiese Organe herumgezeichnet worden war.
»Ich sammle Erfahrungen über uns Menschen, über das Innere unserer Leiber, um genauer zu sein«, sagte Vinsebeck, der Johannas Erstaunen offenbar, ohne seinen Blick zu heben, bemerkt hatte. »Was nutzt Galens Säftelehre allein, wenn wir doch aus weit mehr als Schleim, Blut und Galle bestehen? Ein Schlachtermeister weiß über die innere Anatomie des Lebens mitunter besser Bescheid als ein studierter Physicus. Das darf nicht sein.«
Johanna schluckte, wagte es aber nicht, die in ihr brennenden Fragen zu stellen. Stattdessen besann sie sich auf ihr eigentliches Anliegen und stammelte:
»Die Herrin schickt mich, es geht um eine Schwangere. Wir befürchten eine zu frühe Niederkunft.«
Vinsebeck schien wenig überrascht, schaute, wie gewohnt, nicht einmal auf und murmelte dann nur:
»Da bin ich der Falsche. Geh zu einer der Hebammen, die wissen in der Hinsicht besser Bescheid als ein Pillendreher und Bücherwurm wie ich.«
Er war in eine seiner Zeichnungen vertieft, eine menschliche Hand, von welcher jedoch die Haut gänzlich abgezogen war. Johanna schüttelte es bei diesem entsetzlichen Anblick.
»Das ist nichts Ekelhaftes«, schimpfte er plötzlich, jedoch mit einem heiteren Unterton in der Stimme. »Wunderschön sieht das aus. Unser Schöpfer, wer immer es sein mag, ist ein wahrer Meister seiner Kunst.«
»Woher, wenn ich mir die Frage erlauben darf, habt Ihr denn all dieses Wissen über den Menschen?«, fragte sie nun doch, scheu, aber dennoch ihre unterdrückte Neugier überwindend.
»Erfahrung.« Mehr sagte Vinsebeck nicht und überließ alles andere der Phantasie seines Gastes. Und in Johannas Geist taten sich wahrhaftig mit einem Mal unglaubliche Bilder auf, die sie mit einem schnellen Kopfschütteln wieder vertrieb.
»In Italien lebte bis vor wenigen Jahren ein großer Meister namens Leonardo«, begann Vinsebeck mit feierlicher Stimme zu berichten, nahm die eigentümlichen Gläser von der Nase und schaute Johanna nun endlich einmal aus seinen kleinen, schwarzen Äuglein an. »Ihn interessierte alles – der Mensch von innen wie von außen, die Welt der Tiere und der Pflanzen, die Kraft des Wassers und des Windes, die Gesetze der Chemie sowie die Möglichkeiten der Mechanik. Ununterbrochen trieb er seine Studien, forschte und erfand. Er bezeichnete sich selbst als einen » ›omo sanza lettere‹«, als einen Menschen ohne Bildung. Sein ganzes Wissen und Können beruhte allein auf Erfahrung. Er erkannte, dass es in dieser Welt nichts Zufälliges gibt, alles hat seinen Sinn, seine Funktion, seine Notwendigkeit, und ebendies gilt es durch rastloses Suchen und Versuchen mit Hilfe der Erfahrung zu ergründen. Wir Menschen dürfen nicht einfach hinnehmen, was der Weltbaumeister erschaffen hat, wir müssen es auch begreifen. Und um nichts anderes bin auch ich bemüht: Ich versuche zu verstehen, was sich der Schöpfer dabei gedacht hat, als er den Menschen so und nicht anders erschaffen hat. Manche mögen das für verwerflich oder gar teuflisch halten, tatsächlich ist es vielmehr eine Lobpreisung oder besser eine Achtung des Lebens.« Und mit weniger feierlicher, sondern eher nüchterner Stimme fügte er an: »Übrigens schreckte auch Leonardo nicht davor zurück, Leichen zu öffnen.«
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