Mit einem Nicken bedeutete sie Johanna, auch die Tür zur Schreibstube zu schließen. Der Secretarius Bennheim war an diesem Tage nicht anwesend. Es handelte sich bei ihm um ein bescheidenes, dünnes, altes Männlein, welches den Titel eines Sekretärs nicht wirklich verdiente, denn Bennheim hatte niemals eine Schule besucht, hatte es jedoch vollbracht, sich schon als Knabe selbst das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Fähigkeiten, die in einer kleinen, abgelegenen Stadt wie Hameln jedoch recht selten unter den einfachen Leuten zu finden waren und den guten Mann schließlich mehr als ausreichend dazu qualifizierten, auf Anraten Margarethes seine Arbeit in der Sägemühle niederzulegen und in die Dienste der reichen Kaufmannswitwe zu treten. Seither war der spätberufene Schreiberling der schönen Witwe treu ergeben und zu ihrer unabkömmlichen rechten Hand geworden. Dennoch erledigte Margarethe die meiste Schreibarbeit nach wie vor selbst und war mitunter froh, wenn sie den alten Secretarius auf Geschäftsreise in eine der Nachbarstädte schicken konnte und somit ihre Schreibstube für sich allein hatte.
Laut aufatmend, setzte sie sich auf einen weich gepolsterten, mit hohen Armlehnen versehenen Stuhl hinter dem mit unzähligen Papieren übersäten riesigen Tisch, während Johanna noch immer mit dem kostbaren Umhang über dem Arm an der Türe stand.
Was hatte Margarethe Gänslein da soeben gesagt?
Ein Homunculus war ein von Menschenhand erschaffenes, menschenähnliches Wesen?
Das war Teufelei.
Ohne Frage, es war eindeutig Hexenwerk, was der Zwerg Vinsebeck da in seinem Hinterzimmer betrieb.
Wenn es denn der Wahrheit entsprach – denn Johanna traute sowohl ihrer Herrin als auch dem lustigen Zwerg zu, dass sie sich einen Spaß daraus machten, die neue Magd für dumm zu verkaufen.
Johanna spürte wieder einmal den stummen Blick Margarethes auf sich ruhen. Sie versuchte schon lange, sich an diesen bohrenden Blick, der ihrer Herrin so zu eigen war, zu gewöhnen. Margarethe Gänslein prüfte nun einmal alles haargenau, nicht nur ihre Wechsel und Waren, nein auch ihre Mitmenschen. Zunächst hatte Johanna diese Eigenschaft als unangenehm empfunden, gar als böswillig. Aber mittlerweile hatte sie erkannt, dass nichts anderes als Vorsicht dahintersteckte – Vorsicht und Verletzlichkeit.
»Aber der Apotheker Vinsebeck versucht das nicht wirklich?«, stotterte sie schließlich.
»Durchaus versucht er es. Jedoch recht erfolglos, wie mir scheint. Wie auch sollte so etwas gelingen?«, antwortete Margarethe, aus ihrer prüfenden Starre erwacht.
»Aber wie macht er das, wenn ich fragen darf?«
»Das interessiert dich, nicht wahr? Was glaubst du, wie sehr es alle anderen interessieren würde, wenn sie davon erführen? Schweig bloß stille darüber, sonst geht es dem armen Vinsebeck gehörig an den Kragen. In dieser Stadt haben durchaus schon Leute gebrannt.«
Johanna blickte nach den ermahnenden Worten Margarethes betreten zu Boden. Sie hatte sich mit ihrer Neugierde offenbar zu viel herausgenommen.
»Er versucht es bisher nur an Katzen und Hunden.« Die Stimme der Kaufmannswitwe klang wieder etwas versöhnlicher. »Doch allein das würde ausreichen, um ihn anzuklagen. Also Stillschweigen, Johanna, hast du verstanden?«
Johanna nickte.
»Vinsebeck«, fuhr Margarethe fort, »ist ein originelles, buntes Kerlchen. Ich mag ihn sehr gern, auch wenn ich annehmen muss, dass sein Geist mitunter verwirrt ist. Doch wer von uns ist frei von verrückten Gedanken? Er tötet halt räudige Katzen und streunende Hunde und versucht, sie dann wieder zum Leben zu erwecken. Ja, er behauptet sogar, es sei ihm bereits gelungen, und er werde nun zum Nächsten schreiten. Das halte ich für einen makabren Scherz. Nichts weiter. Doch spielt er mit derlei Scherzen Leuten in die Arme, die es nicht gut mit ihm meinen. Leute wie den Herrn, welchem wir soeben begegnet sind.«
»Auch Ihr versteht Euch nicht gut mit diesem anderen Apotheker, Herrin.«
»Werde nicht unverschämt«, herrschte Margarethe Johanna an, welche sich vor Schreck sofort eine Hand vor den Mund hielt, wobei der wertvolle Mantel zu Boden fiel. Margarethe stand auf und ging auf Johanna zu, doch anstatt ihr eine Ohrfeige zu geben, hob sie den Umhang auf, legte ihn über einen Stuhl und nickte Johanna fast ein wenig traurig zu.
»Du hast ja recht, Johanna«, sagte sie dann leise. »Ich weiß, dass ich es nicht besser mache als Vinsebeck. Zwar versuche ich mich nicht darin, dem Schöpfer ins Handwerk zu pfuschen, aber dennoch begebe ich mich mit meinem Starrsinn und meinem Hochmut in nicht minder große Gefahr. Man duldet mich, ja, aber man liebt mich nicht. Und dulden wird man mich auch nur so lange, wie meine Fuhrwerke genug Waren auf die Stadtwaage bringen. Ein misslungener Handel oder ein Monat Bettlägerigkeit, und sie verjagen mich wie eine tollwütige Hündin. Ich bin allein. Ich habe keine Familie hier, keine einflussreiche Sippschaft, keinerlei verwandtschaftliche Verbindungen zum Patriziat oder zu den Gilden, und somit genieße ich auch keinen Schutz. Ich bin allein. Und das ist meine eigene Schuld. Ich hätte es anders haben können, aber ich wollte es nicht. Ich suche die Einsamkeit und empfinde sie dennoch als unerträglich. Ist das nicht seltsam?«
Johanna wusste nicht, was sie zu diesen unerwartet offenen Worten sagen sollte. Sie fürchtete sich, wieder zu forsch zu sein und die Herrin erneut zu erzürnen. Deshalb schwieg sie.
»Ach, was rede ich denn da?«, lachte Margarethe nun etwas verlegen auf. »Du hast noch reichlich zu tun, und auch ich habe Korrespondenz zu erledigen. Würde doch zu gern wissen, welchen Eindruck der gute Hasenstock auf meine Freunde Baresi und Reinbach gemacht hat.«
Und mit einer nicht unfreundlichen, aber deutlichen Kopfbewegung wies sie Johanna nun an, den Raum zu verlassen.
IX
Herrin, ich kann das nicht tun.«
»Aber gewiss kannst du das. Was ist denn schon dabei? Eine kurze Handbewegung, und die Sache ist erledigt.«
»Die gute Frau Mechthild wird sicherlich wütend sein.«
»Ach was. Zorn ist eine Gefühlsregung, welche meiner liebenswerten Base vollkommen fremd ist. Einsicht hingegen ebenso. Hunderte Male habe ich ihr dazu geraten, doch sie wollte nicht auf mich hören. Jetzt jedoch wird es höchste Zeit! Wirf nur einen Blick vor die Tür, hinauf zum Dach der Kirche, Johanna, sie versammeln sich bereits alle. Hörst du nicht den Lärm, den sie machen? Wenn wir jetzt nicht handeln, dann ist es zu spät, und er wird elendig vor Einsamkeit zugrunde gehen.«
»Nun gut.«
Johanna verließ die Diele, in welcher Margarethe zusammen mit ihrem Secretarius den Warenbestand prüfte, und machte sich auf den Weg auf die Galerie, von wo sie die Kammer betreten konnte, welche die Witwe Mechthild nur zu drei Zwecken verließ: zum Gang in die Kirche, zum Gang in ihre Bettstatt und zum Gang ins heimliche Gemach, das im Hinterhof untergebracht war. In ebendieses hatte sie sich vor kurzer Zeit begeben, und aus Erfahrung wussten Margarethe und auch Johanna, dass eine solche nachmittägliche Sitzung bei der lieben Frau Mechthild eine ganze Weile in Anspruch nahm. Zeit genug, um ein längst fälliges Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Johanna schlich vorsichtig in die überheizte Kemenate, in welcher Mechthild tagaus, tagein auf der gemütlichen Fensterbank in ihrem Erker saß, stickte, nähte, den Rosenkranz betete oder einer äußerst zweifelhaften Tätigkeit, nämlich der Beschäftigung mit Los- und Wahrsagebüchern, nachging. Dieser Aberglaube war neben ihrer Putzsucht die einzige Sünde der herzensguten Frau, es sei denn, man zählte ihre Gewohnheit, jeden Tag der Gesundheit wegen mindestens einen Löffel Branntwein zu schlürfen, ebenfalls zu den bußfertigen Taten.
Mechthild war also nicht im Raume, und auch ihre Freundin, die schroffe Begine Regine, wurde an diesem Tage nicht erwartet, sodass Johanna ungehindert ihren Auftrag erledigen konnte. Ein Auftrag, der ihr persönlich nicht einleuchtete, welcher jedoch Margarethe ein großes Anliegen war.
Читать дальше