Er, den sie erst kürzlich als Bauer gewandet in Hameln gesehen hatte.
Nun also trieb er sein Spiel auf der Erichsburg.
Wie nur in Gottes Namen hatte er sich dort einschleichen können?
Ein wahrer Spitzbube musste das sein.
Sie würde gleich am nächsten Tag die schlaue Regine zu Rate ziehen müssen.
XLIII 
Im Grunde widerte es Philipp an, sich bei Menschen anzubiedern, besonders wenn sie höhergestellt waren. Er tat es nur sehr ungern, wunderte sich aber jedes Mal über sein Geschick und seinen Erfolg in solchen Dingen. Nichts war leichter gewesen, als an den Herzog von Calenberg heranzukommen, denn auf nichts schaute der Landesherr mit mehr Stolz zurück als auf die nunmehr sechsundzwanzig Jahre zurückliegende, bei Regensburg stattgefundene Schlacht im Landshuter Krieg, in der er, der junge Erich von Calenberg, niemand anderem als dem großen Kaiser Maximilian das Leben gerettet hatte. Es war nicht schwierig gewesen herauszufinden, dass es sich bei dem Herzog um einen glühenden Verehrer des nunmehr verstorbenen und durch seinen Enkel Karl ersetzten Kaisers handelte, und für einen klugen Kopf wie Philipp war es erst recht ein Leichtes gewesen, sich eine daran anknüpfende Geschichte auszudenken, die ihn schnell in die Nähe Erichs brachte. Er gab sich als der Sohn eines Vertrauten des alten Kaisers aus, welcher damals bei Regensburg ebenfalls dabei gewesen sei, die Heldentat des mutigen Erich auf dem Schlachtfeld beobachtet und Maximilian danach dringend dazu geraten habe, diesen tüchtigen Jüngling zum Ritter zu schlagen.
Ob Erich die Lüge nun glaubte oder nicht, da war sich selbst Philipp nicht sicher gewesen. Gewiss war lediglich, dass der Herzog es sichtlich genoss, mit einem klugen und in politischen Dingen und historischen Ereignissen bewanderten Menschen reden zu können und deshalb die Anwesenheit des wohlerzogenen Fremdlings in seiner neuen Burg gerne duldete. Unter der Protektion des Herzogs war es Philipp schließlich auch gelungen, in Kontakt zu einem weiteren Gast auf dem Feste Erichs zu treten. Ein Gast, mit dem es wichtig war, einige vertrauliche Worte zu wechseln, um wichtige Informationen an ihn weiterzugeben. Und bei diesem Gast handelte es sich um niemand anderen als um den vom Landsherrn in der Stadt Hameln eingesetzten Vogt. War der Vogt auch wegen des mächtigen Hamelner Stadtrates kaum mehr zu eigenen Handlungen in der Lage, so verfügte er dennoch über das Recht, Verpfändungen und Enteignungen vorzunehmen. Und um die Ausübung ebendieses Rechtes ging es Philipp.
Jetzt aber war diese unangenehme, anbiederische Angelegenheit längst erledigt und Philipp äußerst erschöpft. Lange hatte er mit dem Stadtvogt auf dem rauschenden Feste gesprochen, schwierig war es gewesen, keinen falschen Verdacht zu erwecken, naiv hatte er sich stellen müssen, nahezu unwissend und lediglich empört über die Missstände, die er, Philipp, als Gast in einem bestimmten Hamelner Haus hatte mit ansehen und anhören müssen. Er hatte den Vogt auf den Gedanken bringen können, welche Schritte unter diesen Umständen gegen diese gewisse Hamelner Person unternommen werden müssten und auch zum persönlichen Vorteil des Vogtes unternommen werden könnten. Vorteile, die nur er, der Vogt, herausschlagen könnte, ohne in Rat und Kirche der Stadt unliebsame Konkurrenten an seiner Seite zu haben.
Ja, der Plan war gut. Er war furchtbar durchtrieben, aber gut, denn niemand würde dabei körperlich zu Schaden kommen, und niemand, der es nicht verdient hätte, würde davon profitieren. Nicht, dass der Vogt ein Mensch gewesen wäre, dem Philipp einen solchen Gewinn gegönnt hätte, aber immerhin war er in der ganzen Angelegenheit bislang unbeteiligt gewesen, und es hätte Philipp gefreut, wenn diese Marionette des Herzogs plötzlich als lachender Dritter dastünde. Denn er selbst, das hatte Philipp längst entschieden, wollte keinen Heller von dem blutigen Geld besitzen.
Aus diesem Grund hatte er sein Gold, das zu einem großen Teil von Margarethe Gänslein stammte, längst vergraben und führte nun lediglich einige wenige Stücke mit sich, als er zurück nach Hameln ritt, um dort einen vorletzten Schritt zu unternehmen. So verschlagen und schlecht er sich bei seinem mit dem Vogt geschmiedeten Plan auch vorgekommen war, so wohl fühlte er sich nun bei dem Gedanken an das, was er für diesen Abend im Sinn trug. Auch wenn dies alles andere als unblutig und sauber vonstatten gehen würde.
Er war müde, aber dennoch zuversichtlich, dass, sobald alles ein Ende gefunden hatte, die Ruhe auf ihn wartete und das unerbittliche Verlangen nach ebendieser Ruhe ein Ende fand. Ja, dieses bohrende Verlangen, welches ihn zwang, sein altes Leben und dessen Folgen auszulöschen, um ganz rein und frei von vorn zu beginnen. Ein Verlangen, das ihm sogar verbot, das wenige Gute, was er in den letzten schrecklichen Jahren erfahren hatte, mitzunehmen. Ja, es war ein gnadenloses Streben nach Ruhe, doch diese Ruhe war so erhofft, so ersehnt, dass er meinte, alles für sie opfern zu müssen.
War das Wahnsinn?
Würde irgendein anderer Mensch verstehen, was ihn trieb?
Er wusste es nicht, denn er dachte im Traume nicht daran, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen. Er war sich selbst genug, und er hatte entschieden.
Auch wenn sein Entschluss, besonders hinsichtlich Johannas, schmerzhaft war.
Schmerzhaft war jedoch nicht, was er mit dem Halunken Peter Hasenstock zu tun beschlossen hatte. Sich an diesen Gedanken klammernd, versuchte Philipp alle anderen, sentimentalen Gemütsregungen zu ignorieren. Und je näher er der Stadt Hameln kam, desto besser schien ihm das zu gelingen.
Sie biss mit ihren krummen, gelben Zähnen auf das Goldstück und prüfte es dann lange und ausgiebig mit einem kritischen Blick. Vor wenigen Jahren noch musste sie eine Schönheit gewesen sein, doch das Leben, welches sie führte, hatte ihr übel mitgespielt. Es waren nicht das Brandzeichen auf ihrer Stirn und auch nicht die abgeschnittene und wieder geflickte Nasenspitze, die sie als eine solche ausweisen sollten, wie sie eindeutig eine war. Nein, vielmehr zeugten die eingefallenen Wangen und der von bitterer Erfahrung sprechende Zug um ihren Mund davon, dass es sich bei dieser Frau um eine Gefallene handelte. Eine Gefallene, die bereits so tief unten lag, dass es ihr niemals mehr möglich sein würde, aufzustehen.
Für sie war das, was Philipp zu erreichen sehnte, weiter entfernt als der Himmel für den Beelzebub, aber dennoch schien sie fröhlich zu sein. Zumindest war es ihr möglich, sich geschickt fröhlich zu geben.
»Und das zweite bekomme ich, wenn er bei mir war?«, fragte sie nun, ihm jenen Blick zuwerfend, der für ihr Gewerbe so eigentümlich war, welcher jedoch bei Philipp keinerlei Wirkung erzielte.
»So ist es«, bestätigte er.
»Du willst bloß unbemerkt zuschauen. Oder magst du auch mitmachen?« Nun strich sie ihm mit ihren schlanken Fingern übers Knie. Er zog sein Bein zurück.
»Nur zuschauen.«
»Es gibt nichts, was es nicht gibt«, erwiderte sie nun lapidar und zuckte mit den Schultern. »Leicht verdientes Geld ist es jedoch nicht für mich, denn dieser Mensch hat die Franzosen.«
»Nichts, womit du nicht auch schon längst Bekanntschaft geschlossen hättest, oder?«, antwortete Philipp bitter schmunzelnd und erhob sich. Er hatte nicht vor, länger als notwendig in diesem liederlichen Frauenhaus zu verweilen. Zudem galt es noch eine weitere Erledigung zu machen.
»Wenn du mir nicht so viel Geld geben würdest, hätte ich dir jetzt ins Gesicht gespuckt, du Kotzbrocken«, rief sie ihm nach. Ihre Stimme klang jedoch, lebenserfahren wie die schwarze Hedi nun einmal war, wenig empört. Sie hatte schon weitaus demütigendere Beleidigungen ertragen müssen.
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