Als er zu Simons Haus wanderte und dabei an Rifkes Brot knabberte, dachte Bento über dieses Erlebnis nach. Offensichtlich hatte er die Macht der Vergangenheit unterschätzt. Ihr Stempel ist unauslöschlich. Er kann nicht entfernt werden: Er färbt die Gegenwart und nimmt gewaltigen Einfluss auf Gefühle und Handlungen. Klarer als je zuvor verstand er, wie unbewusste Gedanken und Gefühle zur Verknüpfung von Ursachen gehören. So vieles wurde klar: die Heilkraft, zu der er Franco inspirierte, der starke, wehmütige Sog der Taschlich -Zeremonie, ja selbst der außergewöhnliche Geschmack von Rifkes Brot, das er bedächtig kaute, als wollte er jede einzelne Geschmacksnuance auskosten. Und darüber hinaus wusste er mit Gewissheit, dass seine Seele ganz bestimmt einen unsichtbaren Kalender barg: Obwohl er Rosh Hashanah vergessen hatte, hatte sich ein Teil seiner Seele daran erinnert, dass dieser Tag den Beginn eines neuen Jahres markierte. Vielleicht war es dieses verborgene Wissen, das der Unpässlichkeit zugrunde lag, die ihn schon den ganzen Tag plagte. Bei diesem Gedanken lösten sich das Schmerzgefühl und die Schwere in seinem Körper in Luft auf. Er beschleunigte seine Schritte, als er auf Amsterdam und das Haus von Simon de Vries zusteuerte.
** Ach! Wären alle Menschen weise
Und wollten Gutes noch dazu!
Dann wär die Welt ein Paradies
Jetzt ist sie meist eine Hölle.
28
FRIEDRICHS BÜRO, OLIVAER PLATZ 3, BERLIN, 1925
»Denn nicht Sie, meine Herren, sprechen das Urteil über uns, das Urteil spricht das ewige Gericht der Geschichte, das sich aussprechen wird über die Anklage, die gegen uns erhoben ist. … Mögen Sie uns tausendmal schuldig sprechen, die Göttin des ewigen Gerichts der Geschichte wird lächelnd den Antrag des Staatsanwaltes und das Urteil des Gerichtes zerreißen; denn sie spricht uns frei.«
Adolf Hitler, letzte Worte aus seiner Rede beim Prozess in München 1924
»Am 25. April 1925 war der VB wieder als Tageszeitung erschienen. Und wer wurde ungeachtet aller meiner Einwände und Argumente wieder als Hauptschriftleiter eingesetzt? –Rosenberg, der unerträgliche, engstirnige Möchtegernmythologe, der antisemitische Halbjude, der, und das behaupte ich bis heute, der Bewegung mehr Schaden zugefügt hat als irgendein anderer Mensch abgesehen von Goebbels.«
Ernst (Putzi) Hanfstaengl
»Hitlers Nachricht hat mich mehr als erstaunt. Hier, Friedrich, ich möchte, dass du dir das mit eigenen Augen ansiehst. Ich trage den Zettel immer in der Brieftasche bei mir. Ich habe ihn jetzt in ein Kuvert gesteckt – er fällt allmählich auseinander.«
Friedrich öffnete das Kuvert behutsam und las.
LIEBER ROSENBERG, VON JETZT AB WERDEN SIE DIE BEWEGUNG FÜHREN.
»Das hast du also nach dem fehlgeschlagenen Putsch bekommen – vor zwei Jahren?«
»Am Tag danach. Er schrieb es am zehnten November 1923.«
»Erzähl mir mehr über deine Reaktion.«
»Wie ich sagte, ich war mehr als erstaunt. Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, weshalb er ausgerechnet mich zu seinem Nachfolger wählte.«
»Sprich weiter.«
Alfred schüttelte den Kopf. »Ich …« Er stockte einen Moment, fasste sich dann und platzte heraus: »Ich war fassungslos. Perplex. Wie konnte das sein? Vor dieser Nachricht hat Hitler niemals darüber gesprochen, dass ich die Partei führen sollte – und nachdem er sie geschrieben hat, ebenfalls nicht!«
Hitler sprach weder vorher noch nachher darüber . Friedrich versuchte, diesen seltsamen Gedanken zu verdauen, konzentrierte sich aber weiter auf Alfreds Gefühlsausbruch. Seine analytische Ausbildung hatte ihn in Geduld geübt. Er wusste, dass sich alles mit der Zeit auflösen würde. »Eine Menge Emotionen in deiner Stimme, Alfred. Es ist wichtig, seinen Gefühlen zu folgen. Was fällt dir dazu ein?«
»Mit dem Putsch fiel alles auseinander. Die Partei lag in Scherben. Die Führer waren entweder im Gefängnis wie Hitler oder außer Landes wie Göring oder untergetaucht wie ich. Die Regierung hat die Partei verboten und den Völkischen Beobachter für immer geschlossen. Erst vor ein paar Monaten wurde er wiedereröffnet, und jetzt habe ich meine frühere Stelle wieder.«
»Darüber möchte ich alles wissen, aber im Augenblick wollen wir deine Gefühle im Zusammenhang mit dieser Nachricht näher beleuchten. Versuch das Gleiche wie schon einmal: Stell dir die Situation vor, als du zum ersten Mal die Nachricht öffnetest, und sprich dann alles aus, was dir gerade in den Sinn kommt.«
Alfred schloss die Augen und konzentrierte sich. »Stolz. Großer Stolz – er hat mich auserwählt, mich vor allen anderen – er hat mir das Zepter übergeben. Es bedeutete alles für mich. Deshalb trage ich den Zettel immer bei mir. Ich hatte keine Ahnung, dass er mir so vertraute und mich so wertschätzte. Was noch? Große Freude. Es war vielleicht der stolzeste Augenblick in meinem Leben. Nein, nicht nur vielleicht, es war mein stolzester Augenblick. Wie habe ich ihn dafür geliebt! Und dann … und dann …«
»Und dann was, Alfred? Nicht aufhören.«
»Und hinterher war alles nur noch ein Haufen Scheiße! Diese Nachricht. Alles! Meine größte Freude wurde zur größten … zur größten Pestilenz meines Lebens.«
»Von Freude zu Pestilenz. Kläre mich über diese Verwandlung auf.« Friedrich wusste, dass er sich seine Kommentare hätte sparen können. Alfred war begierig darauf weiterzusprechen.
»Es ist so viel passiert, dass meine Zeit heute nicht reichen würde, dir alles im Einzelnen zu beantworten.« Alfred schaute auf seine Armbanduhr.
»Ich weiß, dass du mir nicht alles erzählen kannst, was in den letzten drei Jahren passiert ist, aber ich brauche wenigstens einen kurzen Überblick, wenn ich deine Verärgerung wirklich verstehen soll.«
Alfred schaute zur hohen Zimmerdecke in Friedrichs geräumigem Büro und sammelte seine Gedanken. »Wie soll ich es ausdrücken? Im Wesentlichen stellte mir diese Nachricht eine unmögliche Aufgabe. Ich wurde aufgefordert, einen traurigen Kader bösartiger Männer zu führen, die alle nach der Macht griffen, alle mit eigenen Vorstellungen, jeder Einzelne drauf und dran, mich zu vernichten. Jeder Einzelne seicht und dumm, jeder Einzelne von meiner überlegenen Intelligenz bedroht und vollkommen unfähig, meine Ausführungen zu verstehen. Und keiner von ihnen wusste über die Prinzipien Bescheid, für die die Partei stand.«
»Und Hitler? Er forderte dich auf, die Partei zu führen. Kam von ihm denn keine Unterstützung?«
»Hitler? Er macht mich vollkommen irre und macht mir das Leben noch schwerer. Hast du das Drama um unsere Partei nicht verfolgt?«
»Tut mir leid, aber ich bin über die politischen Vorgänge nicht mehr auf dem Laufenden. Ich werde noch immer von den neuen Entwicklungen in meinem Fachgebiet in Anspruch genommen und auch von den vielen Patienten, die mich aufsuchen – fast alles Ex-Soldaten. Abgesehen davon ist es am besten, wenn ich alles aus deiner Perspektive höre.«
»Dann werde ich dir eine Zusammenfassung geben. Wie du wahrscheinlich weißt, haben wir die Führer der bayerischen Regierung 1923 davon zu überzeugen versucht, sich uns auf einem Marsch nach Berlin anzuschließen, den wir uns von Mussolinis Marsch auf Rom abschauen wollten. Aber unser Putsch war ein absolutes Fiasko. Alle sind der Meinung, dass es nicht schlimmer hätte kommen können. Er war schlecht geplant und schlecht ausgeführt und fiel schon beim ersten Anzeichen von Widerstand in sich zusammen. Als Hitler mir diese Nachricht schrieb, versteckte er sich auf Putzi Hanfstaengls Dachboden und rechnete mit seiner sofortigen Festnahme und möglicher Ausweisung. Als Frau Hanfstaengl mir die Nachricht überbrachte, erzählte sie mir, was passiert war. Drei Polizeiautos waren vor dem Haus vorgefahren. Hitler ist ausgerastet, hat mit seiner Pistole herumgefuchtelt und geschrien, dass er sich lieber erschießen wolle, als sich von diesen Schweinen verhaften zu lassen. Glücklicherweise hatte Frau Hanfstaengls Gatte ihr Jiu-Jitsu beigebracht, und so war Hitler mit seiner lädierten Schulter kein ernstzunehmender Gegner für sie. Frau Hanfstaengl entwand ihm die Pistole und warf sie in ein großes, 200-Kilo-Fass Mehl. Nachdem er mir schnell eine Nachricht aufgeschrieben hatte, marschierte Hitler kleinlaut ins Gefängnis. Alle dachten, dass seine Karriere damit beendet wäre. Hitler war erledigt – er war eine nationale Lachnummer. Wenigstens schien es so. Aber genau an seinem Tiefpunkt zeigte sich sein wahres Genie. Er verwandelte das Fiasko in pures Gold. Ich will ehrlich sein: Er hat mich wie ein Stück Scheiße behandelt. Ich bin am Boden zerstört über das, was er mir angetan hat, aber in diesem Moment trotzdem überzeugter denn je, dass er unser aller Schicksal in der Hand hat.«
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