Als Nächstes beschrieb er die Unfähigkeit, sein Ziel zu erreichen, während er noch immer seinen kulturellen Überzeugungen nachhing, dass die höchsten Güter aus Reichtum, Ehre und Sinnenlust bestünden. Diese Güter, so behauptete er, seien der Gesundheit nicht zuträglich. Sorgfältig las er seine Kommentare zu den Begrenzungen dieser drei weltlichen Güter.
»Was die Sinnenlust betrifft, so geht der Geist in ihr so sehr auf, als wäre sie ein wirkliches Gut, das ihn vollständig befriedigen würde; was ihn am meisten hindert, an etwas anderes zu denken. Auf den Genuß jedoch folgt tiefe Verstimmung, welche den Geist, wenn auch nicht ganz verstört, so doch in Unordnung bringt und abstumpft.
Noch weit mehr aber wird der Geist durch Ehrsucht eingenommen; weil die Ehre immer für ein Gut an sich gehalten wird und als letzter Zweck, auf welchen alles übrige gerichtet wird. Sodann sind diese beiden nicht, wie die Sinnenlust, von Reue begleitet; vielmehr steigert sich die Freude an ihnen, je mehr man davon besitzt, und demzufolge fühlen wir uns immer mehr angespornt, den Besitz derselben zu vermehren. Werden aber unsere Hoffnungen einmal enttäuscht, so entspringt daraus große Traurigkeit.
Endlich ist aber die Ehrsucht hauptsächlich darum ein großes Hindernis, weil wir, um sie zu befriedigen, genötigt sind, unser Leben den Begriffen der anderen Menschen gemäß zu regeln, und also fliehen müssen, was andere zu fliehen pflegen, und nach dem streben müssen, wonach andere streben.«
Bento nickte; besonders zufrieden war er mit seiner Beschreibung des Problems der Ehrsucht. Nun zur Lösung: Er hatte seine Schwierigkeiten zum Ausdruck gebracht, das sichere und gewohnte Gut für etwas Ungewisses loszulassen. In der Folge hatte er diesen Gedanken sofort abgemildert und gesagt, dass es, da er nach einem feststehenden Gut, nach etwas Unveränderlichem suchte, natürlich nicht ungewiss in seiner Natur sei, sondern nur in seiner Erreichung. Obwohl er mit der Argumentationsfolge zufrieden war, fühlte er sich zunehmend unbehaglich, als er weiterlas. Vielleicht hatte er in mehreren Abschnitten zu viel von sich gesagt und preisgegeben:
»Ich sah nämlich, daß ich mich in einer sehr gefahrvollen Lage befand und darum genötigt war, nach einem, wenn auch noch ungewissen Hilfsmittel mit allen Kräften zu suchen; wie ein Todkranker, der seinen sicheren Tod voraussieht, falls kein Heilmittel angewendet wird, ein solches mit voller Kraft zu suchen sich genötigt sieht, weil eben seine ganze Hoffnung darauf beruht.«
Er spürte, wie ihm beim Lesen das Blut in den Kopf stieg, und murmelte leise: »Das ist keine Philosophie. Das ist viel zu persönlich. Was habe ich getan? Das ist nichts als eine leidenschaftliche Argumentation mit dem Ziel, Emotionen zu wecken. Ich beschließe … nein, ich beschließe nicht nur, ich gelobe , dass Bento Spinoza und seine Suche, seine Ängste und Hoffnungen in Zukunft unsichtbar sein werden. Ich schreibe falsch, wenn ich die Leser nicht ausschließlich durch die Vernunft meiner Argumente überzeugen kann.«
Er nickte und fuhr fort, Abschnitte zu lesen, in denen er darlegte, wie Menschen alles, sogar ihr Leben, opferten, um Reichtümer, Ehre und die Erfüllung von Sinnenfreuden zu erlangen. Und nun die Einleitung zur Lösung in kurzen, starken Passagen.
»Weiter schien es mir, daß der Ursprung dieser Übel in dem Umstand zu suchen wäre, daß alles Glück oder Unglück einzig und allein in der Beschaffenheit des Gegenstandes liegt, dem wir in Liebe anhängen. Denn um etwas, was man nicht liebt, wird niemals ein Streit entstehen, keine Trauer … kein Hass … mit einem Wort keinerlei Erregungen des Gemüts. Denn diese kommen nur vor in der Liebe zu solchen Dingen, welche untergehen können, wie diejenigen sind, von denen wir soeben gesprochen haben. Hingegen die Liebe zu einem ewigen und unbegrenzten Ding erfüllt das Gemüt nur mit Freude, und sie ist frei von jedweder Traurigkeit; was überaus wünschenswert und aus vollen Kräften zu erstreben ist.«
Er konnte nicht weiterlesen. Sein Kopf dröhnte – an diesem Tag fühlte er sich ganz und gar nicht wohl –, er schloss die Augen und döste eine gefühlte Viertelstunde lang vor sich hin. Das Erste, was er beim Aufwachen sah, war eine dichtgedrängte Gruppe von zwanzig oder dreißig Menschen, die am Ufer des Kanals entlangspazierten. Wer waren diese Leute? Wohin gingen sie? Er konnte den Blick nicht von ihnen wenden, während die Trekschuit sich der Gruppe näherte und sie dann überholte. An der nächsten Haltestelle, noch immer eine Stunde Fußmarsch zum Haus von Simon de Vries in Amsterdam entfernt, wo er die Nacht verbringen wollte, ertappte er sich dabei, dass er seine Tasche packte, vom Kahn sprang und zurück auf die Gruppe zuging.
Bald war er so nahe herangekommen, dass er sah, dass die Männer, die alle die holländische Tracht der Arbeiterklasse trugen, Yarmulkes aufgesetzt hatten. Ja, das waren zweifellos Juden, aber Aschkenaser Juden, die ihn nicht erkennen würden. Er ging noch weiter auf sie zu. Die Gruppe war auf einer Lichtung am Ufer des Kanals stehengeblieben und versammelte sich nun um ihren Anführer, ohne Zweifel ihr Rabbiner, der direkt am Wasser Gebete zu singen begann. Bento ging noch ein paar Schritte auf die Gruppe zu; er wollte hören, was der Rabbiner betete. Eine kleine, stämmige, ältere Frau, deren Schultern von einem schweren schwarzen Tuch bedeckt waren, beäugte Bento mehrere Minuten lang und kam dann langsam zu ihm herüber. Bento schaute in ihr faltiges, so freundliches, so mütterliches Gesicht und musste an seine eigene Mutter denken. Aber nein, seine Mutter war gestorben, als sie jünger war als er jetzt. Diese alte Frau war in dem Alter, in dem die Mutter seiner Mutter gewesen war. Sie kam auf ihn zu und fragte: » Bist an undzeriker? «
Obwohl Bento bei seinen beruflichen Verhandlungen mit Aschkenaser Juden nur ein paar Brocken Jiddisch aufgeschnappt hatte, verstand er ihre Frage sofort, konnte ihr aber nicht antworten. Schließlich schüttelte er den Kopf und flüsterte: »Sephardisch.«
» Ah, ihr zayt an undzeriker. Ot iz a matone fun Rifke .« (Ach, dann bist du einer von uns. Hier ist ein Geschenk von Rifke.) Sie griff in ihre Schürzentasche, drückte ihm einen Kanten Brot in die Hand und zeigte zum Kanal.
Er bedankte sich mit einem Nicken, und als sie fortging, schlug Bento sich vor die Stirn und murmelte: » Taschlich . Erstaunlich … es ist Rosh Hashanah – wie konnte ich das nur vergessen haben?« Er kannte die Taschlich -Zeremonie gut. Seit Jahrhunderten feierten jüdische Gemeinden den Gottesdienst an Rosh Hashanah an einem fließenden Gewässer, der damit endete, dass die Gläubigen Brot ins Wasser warfen. Die Worte der Heiligen Schrift fielen ihm wieder ein: »Der Herr wird sich unser wieder erbarmen, unsere Missetaten dämpfen und alle unsere Sünden in die Tiefe des Meers werfen.« (Micha 7:19).
Er trat noch ein paar Schritte näher, um dem Rabbiner zu lauschen, der seine Gemeinde, die Männer, die sich dichtgedrängt um ihn versammelt hatten, und die Frauen in einem äußeren Kreis, dazu aufrief, an alles zu denken, was sie im vergangenen Jahr bedauerten, alle lieblosen Taten, ihre unedlen Gedanken, ihren Neid, ihren Stolz und ihre Schuld, und er wies sie an, alles abzuschütteln, unwerte Gedanken ebenso fortzuwerfen, wie sie nun ihr Brot fortwarfen. Der Rabbiner warf sein Brot ins Wasser, und augenblicklich taten die anderen es ihm gleich. Bento griff einen kurzen Moment lang in seine Tasche, in die er sein Brot gesteckt hatte, zog dann die Hand aber wieder zurück. Es missfiel ihm, an irgendeinem Ritual teilzunehmen, und abgesehen davon war er nur Zuschauer und zu weit vom Kanal entfernt. Der Rabbiner sang die Gebete auf Hebräisch, und Bento murmelte die Worte reflexartig mit. Es war alles in allem eine angenehme und ausgesprochen gefühlvolle Zeremonie, und als die Gruppe sich zum Gehen wandte und den Rückweg zur Synagoge antrat, nickten ihm viele zu und wünschten: » Gut Yontef« (»Schöne Feiertage«). Er antwortete mit einem Lächeln » Gut Yontef dir « (»Dir schöne Feiertage«). Er mochte ihre Gesichter; das waren bestimmt gute Menschen. Auch wenn sich ihre Erscheinung von seiner eigenen sephardischen Gemeinde unterschied, erinnerten sie ihn doch an die Menschen, die er als Kind gekannt hatte. Einfach, aber rücksichtsvoll. Heiter und im Einklang miteinander. Er vermisste sie. Oh, wie sehr er sie vermisste.
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