»Und welche?«
»Übergeneralisierung. Therapeuten sind anders. Wir sind komische Vögel. Die meisten anderen Menschen haben nicht wie wir diese leidenschaftliche Neugier auf die Seele. Bis jetzt höre ich, dass sein Ziel sich von dem Ihren eklatant unterscheidet: Was er möchte, ist, für seine Kumpane ein liebenswerterer Mensch zu werden. Unterschätzen Sie also nicht die Gefahr, dass eine Therapie für jeden Beteiligten auch alles verschlimmern könnte. Ich will es konkreter ausdrücken: Wenn Sie es tatsächlich schaffen, Rosenberg so zu ändern, dass Hitler ihm mehr Zuneigung entgegenbringt, dann haben Sie nur seine Bösartigkeit effektiver gemacht.«
»Ich verstehe. Meine Aufgabe ist es, ihn dazu zu bringen, ein anderes, ziemlich gegensätzliches Ziel anzustreben, nämlich sein verzweifeltes und irrationales Bedürfnis nach Hitlers Zuneigung zu verstehen und abzubauen.«
Dr. Abraham lächelte seinen jungen Schüler an. »Ganz genau. Mir gefällt Ihr Enthusiasmus, Friedrich. Wer weiß? Vielleicht gelingt es Ihnen ja. Nun, dann wollen wir uns darum bemühen, Sie zu der einen oder anderen Fachkonferenz nach München zu schicken. Bei dieser Gelegenheit könnten Sie dann ein paar Therapiestunden mit ihm vereinbaren.«
Bayreuth, Oktober 1923
Trotz seiner beruflichen Belastungen machte Alfred sein Vorhaben wahr, Houston Stewart Chamberlain zu besuchen. Er konnte Hitler mühelos davon überzeugen, ihn zu begleiten. Auch Hitler war von Chamberlains Werk Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts begeistert und sollte zum Ende seines Lebens behaupten, dass Chamberlain (neben Dietrich Eckart und Richard Wagner) seine vorrangigen intellektuellen Mentoren gewesen waren.
Chamberlain lebte mit seiner Frau Eva (Wagners Tochter) und Cosima, Wagners sechsundachtzig Jahre alter Witwe, in Wahnfried, Evas klobigem, altem Elternhaus in Bayreuth. Die zweihundertvierzig Kilometer lange Fahrt nach Bayreuth gestaltete sich für Alfred höchst angenehm. Es war sein erster Ausflug in Hitlers nagelneuem Mercedes und eine Gelegenheit, mehrere Stunden lang Hitlers ungeteilte Aufmerksamkeit zu genießen.
Ein Dienstbote hieß sie willkommen und führte sie die Treppe hinauf, wo Chamberlain sie in seinem Rollstuhl erwartete. Eine Decke mit blau-grünem Schottenkaro lag akkurat über seinen Beinen, und er schaute zum großen Fenster hinaus, das auf den Innenhof hinausging. Er litt an einer mysteriösen Nervenkrankheit, die ihn teilweise lähmte und unfähig machte, sich deutlich zu artikulieren. Chamberlain sah viel älter aus als die siebzig Jahre, die er war: Seine Haut war fleckig, seine Augen leer, die eine Hälfte des Gesichts krampfartig verzerrt. Den Blick fest auf Hitlers Gesicht geheftet, nickte Chamberlain von Zeit zu Zeit; anscheinend verstand er Hitlers Worte. Rosenberg würdigte er keines Blickes. Hitler beugte sich vor, brachte den Mund nahe an Chamberlains Ohr und sagte: »Ich schätze Ihre Gedanken in Ihrem bedeutenden Werk Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts , wonach die germanische Rasse sich mit den Juden in einem Kampf auf Leben und Tod befindet, der nicht nur mit Kanonenkugeln, sondern im Herzen der Gesellschaft durch Ehen und so fort ausgefochten wird.« Chamberlain nickte, und Hitler fuhr fort: »Herr Chamberlain, ich verspreche Ihnen, dass ich der Mann bin, der diesen Krieg für Sie wagt.« Dann erläuterte er in epischer Breite sein Fünfundzwanzig-Punkte-Programm und seine durch nichts zu erschütternde Entschlossenheit, ein judenfreies Europa zu erreichen. Chamberlain nickte heftig und krächzte von Zeit zu Zeit: »Ja, ja.«
Später, als Hitler den Raum zu einer privaten Audienz bei Cosima Wagner verlassen hatte, blieb Rosenberg mit Chamberlain allein und erzählte ihm, dass er im Alter von sechzehn Jahren genau wie Hitler von den Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts verzaubert gewesen war und auch er Chamberlain sein Leben lang zu Dank verpflichtet sei. Dann beugte er sich, wie zuvor Hitler, nahe an Chamberlains Ohr und vertraute ihm an: »Ich beginne gerade, ein Buch zu schreiben, das, wie ich hoffe, Ihre Arbeit ins nächste Jahrhundert weiterführen wird.« Vielleicht lächelte Chamberlain – sein Gesicht war so verzerrt, dass es schwer zu sagen war. Alfred fuhr fort: »Ihre Ideen und Ihre Worte werden sich auf allen Seiten meines Buches finden. Ich habe gerade, erst angefangen. Es wird ein Fünfjahresprojekt werden – es ist noch so viel zu tun. Ich habe jedoch gerade einen Abschnitt für den Schluss geschrieben: ›Und die heilige Stunde des Deutschen wird dann eintreten, wenn das Symbol des Erwachens, die Fahne des aufsteigenden Lebens, das allein herrschende Bekenntnis des Reiches geworden ist.‹« Chamberlain grunzte. Vielleicht sagte er: »Ja, ja.«
Alfred lehnte sich im Stuhl zurück und sah sich um. Hitler war noch immer nicht in Sicht. Alfred beugte sich wieder zu Chamberlains Ohr: »Verehrter Lehrmeister, ich brauche Ihre Hilfe in einer Angelegenheit. Es geht um das Spinoza-Problem. Sagen Sie mir, wie es möglich ist, dass dieser Jude aus Amsterdam Werke schrieb, die von den größten deutschen Denkern, unter ihnen auch der unsterbliche Goethe, so sehr geschätzt wurden. Wie ist so etwas möglich?« Chamberlain zuckte erregt mit dem Kopf und artikulierte verworrene Geräusche, von denen Rosenberg nur » Ja, Ja« heraushören konnte. Kurz danach sackte Chamberlain zusammen und schlief tief und fest.
Auf der Heimfahrt sprachen die beiden Männer wenig über Chamberlain, denn Alfred hatte ein anderes Anliegen: Er wollte Hitler davon überzeugen, dass es nun an der Zeit sei, dass die Partei in Aktion trete. Alfred erinnerte Hitler an die grundlegenden Fakten: »Das Chaos hat ganz Deutschland erfasst«, sagte Alfred. »Die Inflation gerät außer Kontrolle. Vor vier Monaten war ein Dollar noch fünfundsiebzigtausend Mark wert, und gestern waren es hundertfünfzig Millionen Mark. Gestern hat ein Pfund Kartoffeln bei meinem Krämer um die Ecke neunzig Millionen Mark gekostet. Und ich bin mir völlig sicher, dass die Wertpapiermaschinen in Kürze Eine-Trillion-Mark-Scheine drucken werden.«
Hitler nickte müde. Das alles hatte er schon mehrmals von Alfred gehört.
»Und überall um uns herum gibt es Staatsstreiche«, fuhr Alfred fort. »Der Putsch der Kommunisten in Sachsen, der Putsch der Reservisten der Reichswehr in Ostpreußen, der Kapp-Putsch in Berlin, der Staatsstreich der rheinischen Separatisten. Aber das eigentliche Pulverfass, das zu explodieren droht, ist München und ganz Bayern. In München tummeln sich unzählige Parteien des rechten Flügels, die sich gegen die Regierung in Berlin stellen. Aber von denen sind wir bei weitem die stärkste, die mächtigste und die am besten organisierte Partei. Jetzt ist unsere Zeit gekommen! Ich heize die Stimmung des Volkes mit immer neuen Artikeln in unserer Zeitung an und bereite sie auf eine große Aktion der Partei vor.«
Hitler schien noch immer unsicher. Alfred drängte ihn: »Ihre Zeit ist gekommen. Sie müssen jetzt handeln, oder Sie verpassen diese einmalige Chance.«
Als der Wagen am Bürogebäude des Völkischen Beobachters anhielt, sagte Hitler nur: »Viel nachzudenken, Rosenberg.«
Ein paar Tage später besuchte Hitler Alfred in seinem Büro und wedelte grinsend mit einem Brief vor seiner Nase, den er von Houston Stewart Chamberlain erhalten hatte. Er las ihn ihm auszugsweise vor:
»7. Oktober 1923
Sehr geehrter und lieber Herr Hitler.
Sie haben alles Recht, diesen Überfall nicht zu erwarten, haben Sie doch mit eigenen Augen erlebt, wie schwer ich Worte auszusprechen vermag. Jedoch ich vermag dem Drange, einige Worte mit Ihnen zu sprechen, nicht zu widerstehen.
Es hat meine Gedanken beschäftigt, wieso gerade Sie, der Sie in so seltenem Grade ein Erwecker der Seelen aus Schlaf und Schlendrian sind, mir einen so langen erquickenden Schlaf neulich schenkten, wie ich einen ähnlichen nicht erlebt habe seit dem verhängnisvollen Augusttag 1914, wo das tückische Leiden mich befiel. Jetzt glaube ich einzusehen, daß dies grade Ihr Wesen bezeichnet und sozusagen umschließt: der wahre Erwecker ist zugleich Spender der Ruhe …
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