»Nein, was?«, fragte Bento. »Gefällt Ihnen meine Übersetzung nicht? Ich versichere Ihnen, dass …«
»Es sind nicht Ihre Worte«, fiel Jacob ihm ins Wort, »es ist Ihre Art. Als Jude fühle ich mich über die Art beleidigt, wie Sie mit unserem heiligen Buch umgehen. Weder küssen Sie es, noch ehren Sie es. Sie haben es praktisch auf den Tisch geworfen; Sie zeigen mit einem ungewaschenen Finger darauf. Und Sie lesen es weder singend noch mit irgendeinem Tonfall. Sie lesen es so, als würden Sie einen Kaufvertrag über Ihre Rosinen vorlesen. Diese Art zu lesen beleidigt Gott.«
»Beleidigt Gott? Jacob, ich bitte Sie, auf dem Pfad der Vernunft zu bleiben. Haben wir uns nicht gerade darauf verständigt, dass Gott vollkommen ist, keine Bedürfnisse hat und kein Wesen ist wie wir? Könnte ein solcher Gott sich überhaupt von einer solchen Trivialität wie meiner Art zu lesen beleidigt fühlen?«
Jacob schüttelte schweigend den Kopf, während Franco zustimmend nickte und seinen Stuhl näher an Bento heranrückte.
Bento fuhr fort, den Psalm laut auf Hebräisch vorzulesen und für Franco ins Portugiesische zu übersetzen. »›Der HERR ist nahe allen, die ihn mit Ernst anrufen.‹« Bento ging einige Verse im selben Psalm zurück und las weiter: »›Der HERR ist allen gütig und erbarmet sich aller seiner Werke.‹ Vertrauen Sie mir«, sagte er. »Ich kann eine Menge solcher Passagen finden, aus denen klar hervorgeht, dass Gott allen Menschen den gleichen Intellekt gab und auch ihre Herzen gleichermaßen formte.«
Bento wandte seine Aufmerksamkeit Jacob zu, der abermals den Kopf schüttelte. »Sind Sie mit meiner Übersetzung nicht einverstanden, Jacob? Ich kann Ihnen versichern, dass es ›alle‹ heißt; es heißt nicht ›alle Juden‹.«
»Dem kann ich nicht zustimmen: Die Worte sind Worte. Was die Bibel sagt, sagt die Bibel. Aber die Bibel hat viele Worte, und es gibt viele Lesarten und viele Interpretationen durch viele heilige Männer. Ignorieren Sie etwa die hervorragenden Kommentare von Rashi und Abarbanel oder kennen Sie sie vielleicht gar nicht?«
Bento blieb unbeeindruckt. »Die Kommentare und die Kommentare zu den Kommentaren wurden mir sozusagen mit der Muttermilch eingeflößt. Ich las sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Ich verbrachte Jahre damit, die heiligen Schriften zu studieren, und wie Sie mir selbst sagten, respektieren mich viele in unserer Gemeinde als Gelehrten. Vor einigen Jahren fasste ich mir selbst ein Herz, erlangte einen Doktortitel für Alt-Hebräisch und Aramäisch, legte die Kommentare anderer beiseite und studierte aufs Neue die Worte, die tatsächlich in der Bibel stehen. Um die Worte der Bibel wirklich verstehen zu können, muss man die alte Sprache kennen und sie mit einem frischen, unvoreingenommenen Geist lesen. Ich möchte, dass wir die genauen Worte der Bibel lesen und verstehen und nicht das, was irgendein Rabbiner dahinter vermutete, keine ominösen Metaphern, die Gelehrte zu entdecken glaubten, und keine geheime Botschaft, die Kabbalisten in bestimmten Wortmustern und numerischen Buchstabenwerten erkennen. Ich möchte wieder von vorn anfangen und das lesen, was wirklich in der Bibel steht. Das ist meine Methode. Möchten Sie, dass ich fortfahre?«
Franco sagte: »Ja, ich bitte darum«, aber Jacob zögerte.
Seine Erregung war offensichtlich, denn kaum hörte er, wie Bento das Wort »alle« betonte, da ahnte er schon, worauf Bento mit seinen Argumenten hinauswollte – er roch förmlich die gestellte Falle. Er versuchte es mit einem präemptiven Manöver: »Sie haben meine drängende und einfache Frage noch nicht beantwortet: ›Streiten Sie ab, dass die Juden das auserwählte Volk sind?‹«
»Jacob, Ihre Fragen sind die falschen Fragen. Offensichtlich habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Ich habe vor, Ihre gesamte Einstellung zu Autoritäten herauszufordern. Die Frage ist nicht, ob ich es bestreite oder ob irgendein Rabbiner oder ein anderer Gelehrter es behauptet. Wir wollen versuchen, nicht zu irgendeiner bedeutenden Autorität aufzuschauen, sondern uns die Worte unserer Heiligen Schrift ansehen, die uns sagen, dass wahres Glück und wahre Glückseligkeit allein darin liegen, Freude an dem zu haben, was gut ist. Die Bibel verlangt nicht von uns, stolz darauf zu sein, dass wir Juden allein glückselig sind, oder mehr Freude zu empfinden, weil andere das wahre Glück nicht kennen.«
Jacob gab nicht zu erkennen, dass er überzeugt war, und so versuchte Bento es mit einer anderen Taktik. »Ich will Ihnen ein Beispiel aus unserer eigenen Erfahrung geben. Vorhin, als wir im Laden waren, erfuhr ich, dass Franco kein Hebräisch kann. Richtig?«
»Ja.«
»Dann sagen Sie mir: Soll ich nun frohlocken, weil ich besser Hebräisch spreche als er? Macht seine Unkenntnis des Hebräischen mich plötzlich gelehrter, als ich noch eine Stunde zuvor war? Freude über unsere Überlegenheit gegenüber anderen ist nicht glückselig. Sie ist kindisch oder bösartig. Ist es nicht so?«
Jacob signalisierte Skepsis, indem er die Schultern einzog, doch Bento war in Fahrt. Jahrelang war ihm das gebotene Schweigen eine Last gewesen, doch nun genoss er die Möglichkeit, viele der Argumente auszusprechen, die er sich erarbeitet hatte. Er wandte sich an Jacob. »Sie werden mir bestimmt Recht geben, dass Glückseligkeit in der Liebe wohnt. Sie ist die überragende, die Kernbotschaft der gesamten Heiligen Schrift – und auch des christlichen Testaments. Wir müssen eine Unterscheidung zwischen dem treffen, was die Bibel sagt, und dem, was die religiösen Oberhäupter sagen, dass sie sagt. Zu oft fördern Rabbiner und Priester ihr Eigeninteresse durch voreingenommene Lesungen, durch Lesungen, die den Anspruch erheben, dass nur sie den Schlüssel zur Wahrheit in Händen halten.«
Aus den Augenwinkeln heraus sah Bento, dass Jacob und Franco erstaunte Blicke wechselten, doch er fuhr unbeirrt fort. »Hier, sehen Sie sich diese Passage in Könige 3:12 an.« Spinoza schlug die Bibel an einer Stelle auf, die er mit einem roten Faden markiert hatte. »Hören Sie sich die Worte an, die Gott zu Salomon spricht: ›Siehe, ich habe dir ein weises und verständiges Herz gegeben, daß deinesgleichen vor dir nicht gewesen ist und nach dir nicht aufkommen wird.‹ Und denken Sie beide nun einen Augenblick über diese Bemerkung Gottes über den weisesten Mann der Welt nach. Sicherlich ist dies ein Beweis dafür, dass die Worte der Thora nicht wörtlich genommen werden dürfen. Sie müssen im Kontext der damaligen Zeit …«
»Kontext?«, warf Franco ein.
»Ich meine die Sprache und die geschichtlichen Ereignisse jener Zeit. Wir können die Bibel nicht mit der Sprache von heute verstehen: Wir müssen sie mit dem Wissen über die Sprachkonventionen jener Zeit lesen, in der sie geschrieben und zusammengestellt wurde, und das war vor ungefähr zweitausend Jahren.«
»Wie bitte?«, rief Jacob aus. »Moses schrieb die Thora, die ersten fünf Bücher, vor weit mehr als zweitausend Jahren!«
»Das ist ein großes Thema. Darauf werde ich in ein paar Minuten zurückkommen. Lassen Sie mich zunächst mit Salomon fortfahren. Worauf ich hinaus möchte, ist, dass Gottes Bemerkung zu Salomon nur eine Redensart ist, die seine große, hervorragende Weisheit zum Ausdruck bringen soll, und sie zielt darauf ab, Salomons Glück zu vergrößern. Glauben Sie im Ernst, dass Gott von Salomon, dem weisesten aller Menschen, erwarten würde, sich darüber zu freuen, dass nach ihm keiner so intelligent sein würde wie er? Bestimmt hätte Gott sich in seiner Weisheit gewünscht, dass ein jeder mit den gleichen Fähigkeiten ausgestattet werde.«
Jacob protestierte. »Ich verstehe nicht, worüber Sie sprechen. Sie pflücken ein paar Worte oder Sätze heraus, aber Sie ignorieren die offensichtliche Tatsache, dass wir von Gott auserwählt wurden. Die Heilige Schrift sagt das immer und immer wieder.«
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