»Dann glauben Sie also, Bento«, sagte Franco, »dass wundertätige Prophezeiungen nichts anderes sind als eingebildete Ansichten der Propheten?«
»Ganz genau.«
Franco fuhr fort: »Es ist, als gäbe es nichts Übernatürliches. Sie lassen es so aussehen, als sei alles erklärbar.«
»Das ist genau das, was ich glaube. Alles, und damit meine ich wirklich alles , hat eine natürliche Ursache.«
»Was mich betrifft«, sagte Jacob, der Bento wütend angefunkelt hatte, als er über die Propheten sprach, »gibt es Dinge, die nur Gott weiß, Dinge, deren Ursache nur im Willen Gottes liegen.«
»Je mehr Wissen wir erlangen können, desto weniger wird nur Gott allein bekannt sein. Mit anderen Worten: Je größer unser Unwissen ist, desto mehr schreiben wir Gott zu.«
»Wie können Sie es wagen …«
»Jacob«, unterbrach Bento. »Lassen Sie uns darauf zurückkommen, weshalb wir drei hier zusammensitzen. Sie kamen zu mir, weil Franco sich in einer spirituellen Krise befand und Hilfe brauchte. Ich habe Sie mir nicht ausgesucht – in Wahrheit riet ich Ihnen, lieber den Rabbiner zu konsultieren. Sie sagten, Ihnen sei zugetragen worden, dass der Rabbiner den Zustand Francos nur noch verschlimmern würde, wissen Sie noch?«
»Ja, das stimmt«, sagte Jacob.
»Was hilft es Ihnen oder mir dann, einen solchen Disput vom Zaun zu brechen? Tatsächlich gibt es nur eine einzige richtige Frage.« Bento wandte sich an Franco. »Sagen Sie mir, bin ich eine Hilfe für Sie? War irgendetwas, was ich sagte, hilfreich?«
» Alles , was Sie sagten, verschaffte mir Trost«, sagte Franco. »Sie helfen meiner geistigen Gesundheit. Ich war kurz davor, die Orientierung zu verlieren, und Ihr klares Denken, Ihre Art, nichts einfach hinzunehmen, was auf Autoritäten beruht – so etwas habe ich bis jetzt noch nie gehört. Ich höre Jacobs Wut, und ich entschuldige mich für ihn, aber was mich betrifft – ja, Sie haben mir geholfen.«
»Wenn das so ist«, sagte Jacob und stand abrupt auf, »haben wir bekommen, weswegen wir gekommen sind, und für uns ist die Sache hiermit erledigt.« Franco sah bestürzt aus und blieb sitzen, aber Jacob packte ihn am Ellbogen und schob ihn zur Tür.
»Danke, Bento«, sagte Franco, der im Türrahmen stand. »Sagen Sie mir bitte, stehen Sie für weitere Treffen zur Verfügung?«
»Ich stehe immer für eine vernünftige Diskussion zur Verfügung – kommen Sie einfach zu mir ins Geschäft. Aber«, und damit wandte Bento sich an Jacob, »für ein Streitgespräch, das keine Vernunft zulässt, stehe ich nicht zur Verfügung.«
Jacob grinste übers ganze Gesicht, sobald sie außer Sichtweite von Bentos Haus waren, legte den Arm um Francos Schulter und drückte sie. »Jetzt haben wir alles, was wir brauchen. Wir haben gut zusammengearbeitet. Du hast deine Rolle gut gespielt – fast schon zu gut, wenn du mich fragst –, aber darüber will ich kein Wort mehr verlieren, denn wir haben nun das vollbracht, was wir tun mussten. Was haben wir alles? Die Juden sind nicht von Gott auserwählt; sie unterscheiden sich überhaupt nicht von anderen Völkern. Gott hat uns gegenüber keine Gefühle. Die Propheten reimen sich alles zusammen. Die Heiligen Schriften sind nicht heilig, sondern ganz und gar Menschenwerk. Gottes Wort und Gottes Wille existieren nicht. Die Schöpfungsgeschichte und der Rest der Thora sind Mythen oder Metaphern. Die Rabbiner, selbst die Größten unter ihnen, besitzen kein besonderes Wissen, sondern handeln nur aus eigenem Interesse.«
Franco schüttelte den Kopf. »Wir haben nicht alles, was wir brauchen. Noch nicht. Ich möchte ihn noch einmal treffen.«
»Ich habe gerade seine ganzen Abscheulichkeiten aufgezählt: Seine Worte sind reine Ketzerei. Das war es, was Onkel Duarte von uns verlangte, und wir haben seinem Wunsch entsprochen. Die Beweise sind erdrückend: Bento Spinoza ist kein Jude: Er ist ein Anti-Jude.«
»Nein«, gab Franco zur Antwort, »wir haben nicht genug. Ich muss noch mehr hören. Ich werde nichts bezeugen, ehe ich nicht mehr habe.«
»Wir haben mehr als genug. Deine Familie ist in Gefahr. Wir haben mit Onkel Duarte einen Handel geschlossen – und niemand wird sich aus einem Handel mit ihm herauswinden. Genau das hat dieser Narr Spinoza versucht – ihn zu betrügen, indem er das jüdische Gericht überging. Nur den Kontakten des Onkels, den Schmiergeldern des Onkels und dem Schiff des Onkels hast du es zu verdanken, dass du dich nicht mehr in einer Höhle in Portugal verstecken musst. Und schon in zwei Wochen wird sein Schiff auch deine Mutter, deine Schwester und meine Schwester herausholen. Willst du, dass sie wie unsere Väter ermordet werden? Wenn du nicht mit mir zur Synagoge gehst und vor dem Vorstand aussagst, wirst du derjenige sein, der ihren Scheiterhaufen anzündet.«
»Ich bin kein Narr, und ich werde mich nicht wie ein Schaf herumkommandieren lassen«, sagte Franco. »Wir haben Zeit, und ich brauche mehr Informationen, bevor ich vor dem Vorstand der Synagoge meine Aussage mache. Ein zusätzlicher Tag macht keinen Unterschied, und das weißt du. Und dazu kommt noch, dass der Onkel verpflichtet ist, sich um seine Familie zu kümmern, selbst wenn wir nichts tun.«
»Der Onkel macht, was der Onkel will. Ich kenne ihn besser als du. Er folgt keinen Regeln außer seinen eigenen, und er ist nicht von Natur aus großzügig. Ich will deinen Spinoza jedenfalls nie mehr besuchen. Er verleumdet unser ganzes Volk.«
»Dieser Mann hat mehr Intelligenz als die ganze Kongregation zusammen. Und wenn du nicht mehr hingehen willst, werde ich allein mit ihm sprechen.«
»Nein, wenn du hingehst, komme ich mit. Ich werde dich nicht allein hingehen lassen. Der Mann hat eine zu große Überzeugungskraft. Ich bin ja selbst ins Wanken gekommen. Wenn du allein hingehst, sehe ich nicht nur einen Cherem für ihn, sondern auch für dich.« Als Jacob Francos verwirrten Blick bemerkte, fügte er hinzu: » Cherem bedeutet so viel wie Exkommunikation – noch ein hebräisches Wort, das du dir merken solltest.«
10
REVAL, ESTLAND, NOVEMBER 1918
»Guten Tag«, sagte der Fremde und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Friedrich Pfister. Kennen wir uns? Sie kommen mir bekannt vor.«
»Rosenberg, Alfred Rosenberg. Ich bin hier aufgewachsen. Kam gerade aus Moskau zurück. Habe erst letzte Woche mein Diplom am Polytechnikum gemacht.«
»Rosenberg? Ach ja, ja – das ist es. Sie sind Eugens kleiner Bruder. Sie haben seine Augen. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Natürlich.«
Friedrich stellte seinen Bierkrug ab und setzte sich Alfred gegenüber an den Tisch. »Ihr Bruder und ich sind sehr gute Freunde, wir stehen immer noch in Kontakt. Ich habe Sie oft bei Ihnen zu Hause gesehen – ich habe Sie sogar huckepack getragen. Sie dürften, nun – sechs, sieben Jahre jünger als Eugen sein?«
»Sechs. Sie kommen mir auch bekannt vor, aber ich kann mich nicht wirklich an Sie erinnern. Ich weiß nicht, weshalb, aber ich habe kaum eine Erinnerung an meine Kindheit – sie ist wie ausradiert. Wissen Sie, ich war erst neun oder zehn, als Eugen zum Studium nach Brüssel ging. Seitdem habe ich ihn kaum mehr gesehen. Sie sagen, Sie stehen noch mit ihm in Kontakt?«
»Ja, erst vor zwei Wochen waren wir in Zürich zusammen beim Abendessen.«
»In Zürich? Er ist aus Brüssel fort?«
»Ja, vor ungefähr einem halben Jahr. Seine Schwindsucht ist wieder aufgeflammt, und er kam zur Liegekur in die Schweiz. Ich studiere momentan in Zürich und habe ihn im Sanatorium besucht. Er wird in zwei Wochen entlassen und zieht dann nach Berlin, wo er eine Weiterbildung im Bankwesen beginnt. Wie der Zufall es will, werde ich ebenfalls in ein paar Wochen zum Studium nach Berlin ziehen. Dann werden wir uns oft dort treffen. Sie wissen nichts davon?«
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