In den Monaten bis zu seinem Prozess saß Alfred Rosenberg in Einzelhaft im Gefängnis von Nürnberg und bekam nur Besuch von seinem Anwalt, einem amerikanischen Militärarzt und Psychologen, der seine Verteidigung vorbereitete. Erst am zwanzigsten November 1945, am ersten Tag des Prozesses, sah er die anderen Angeklagten wieder, als sie sich vor der Spruchkammer und den Teams von Staatsanwälten aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Russland und Frankreich versammelten. In den folgenden elf Monaten sollten sich alle Prozessbeteiligten zweihundertachtzehn Mal in demselben Raum versammeln.
Es gab vierundzwanzig Angeklagte, aber nur zweiundzwanzig von ihnen nahmen am Prozess teil. Ein dreiundzwanzigster, Robert Ley, hatte sich zwei Wochen zuvor mit einem Handtuch in seiner Zelle erhängt, und gegen den vierundzwanzigsten, Martin Bormann, den »Alleinherrscher in Hitlers Vorzimmer«, wurde in Abwesenheit verhandelt, obwohl weithin vermutet wurde, dass er beim Sturm der Russen auf Berlin ums Leben gekommen war. Die Angeklagten nahmen auf vier Holzbänken Platz, die in zwei Reihen aufgestellt waren. Hinter ihnen stand eine Reihe bewaffneter Soldaten. Alfred war der zweite in der ersten rechten Bank. In der vorderen linken Bank saßen Göring, Hess, Joachim von Ribbentrop, der Nazi-Minister für auswärtige Angelegenheiten, und Feldmarschall Wilhelm Keitel, der Oberkommandierende der Streitkräfte. In den Monaten der Haft, die dem Prozess vorausgegangen waren, wurde Göring von seiner Drogensucht befreit, verlor fünfundzwanzig Pfund und machte nun einen schlanken und aufgeräumten Eindruck.
Zur Rechten Alfreds saß Ernst Kaltenbrunner, der höchstrangige überlebende SS-Beamte. Zu seiner Linken saß Hans Frank, Generalgouverneur im besetzten Polen, Wilhelm Frick, Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, und am Ende der Bank Julius Streicher, Herausgeber der Zeitung Der Stürmer . Rosenberg war vermutlich erleichtert, dass er nicht neben Streicher sitzen musste, den er als besonders widerwärtig empfand.
In der zweiten Reihe saßen Berühmtheiten wie Admiral Dönitz, Reichspräsident nach Hitlers Selbstmord und Befehlshaber der U-Boot-Flotte, sowie Feldmarschall Alfred Jodl. Beide bewahrten während des ganzen Prozesses ihre arrogante, militärische Haltung. Daneben saßen Fritz Sauckel, der Generalbevollmächtigte für das Zwangsarbeiterprogramm der Nazis, Arthur Seyß-Inquart, der Reichskommissar für die Niederlande, und dann Albert Speer, Hitlers enger Freund und Architekt – ein Mann, den Rosenberg fast so sehr verabscheute wie Goebbels. Anschließend kamen Walther Funk, der die Reichsbank zu einem Depot für Goldzähne und andere Wertgegenstände umfunktioniert hatte, welche von den Opfern in den Konzentrationslagern stammten, sowie Baldur von Schirach, Reichs-Jugendführer der Nazis.
Die Auswahl der wichtigsten Kriegsverbrecher hatte sich über Monate hingezogen. Es war natürlich nicht der ursprüngliche innere Zirkel, aber angesichts der Selbstmorde Hitlers, Goebbels’ und Himmlers repräsentierten diese Männer die bekanntesten Nazis. Endlich, endlich hatte Alfred Rosenberg den inneren Zirkel betreten. Getreu seinem Charakter versuchte Göring, der Stellvertreter Hitlers, mit verschwörerischem Zwinkern oder aggressiven Blicken die Kontrolle über die Gruppe zu übernehmen, und bald unterwarfen sich ihm viele der Angeklagten. Die Staatsanwälte, beunruhigt von der Aussicht darauf, Göring könnte die Aussagen der anderen Angeklagten beeinflussen, leiteten unverzüglich Maßnahmen ein, um Göring von ihnen zu trennen. Zunächst musste Göring die Mittagspause an den Verhandlungstagen allein verbringen, während die anderen Angeklagten zu dritt an einem Tisch saßen. Später setzten sie strengere Einzelhaftbedingungen für alle Angeklagten durch, um Görings Einfluss weiter zu verringern. Rosenberg lehnte es wie immer ab, sich an den wenigen verbliebenen gesellschaftlichen Möglichkeiten zu beteiligen – weder bei den Mahlzeiten noch beim Gang in den Gerichtssaal oder bei den Tuscheleien während der Verhandlung. Die anderen hielten mit ihrer Abneigung gegen ihn nicht hinter dem Berg, und er tat es ihnen gleich: Das waren die Männer, die er für das Scheitern des edlen ideologischen Fundaments verantwortlich machte, welches er und der Führer so sorgfältig ausgearbeitet hatten.
Nach wenigen Prozesstagen verfolgte das ganze Gericht einen erschütternden Film, den amerikanische Truppen anlässlich der Befreiung der Konzentrationslager gedreht hatten. Nichts, keine einzige schaurige Einzelheit, wurde unterschlagen: Im ganzen Gerichtssaal herrschte Entsetzen und Ekel über die Bilder der Gaskammern, die Öfen in den Krematorien, in denen halb verbrannte Leichen lagen, die Berge verwesender Toter, die Unmengen von Gegenständen, die den Toten abgenommen worden waren – Brillen, Babyschuhe, menschliche Haare. Ein amerikanischer Kameramann richtete sein Objektiv auf die Gesichter der Angeklagten, die den Film ebenfalls sahen. Rosenbergs bleiches Gesicht ließ auf Entsetzen schließen, und er wandte sofort den Blick ab. Nach dem Film behauptete er unisono mit allen anderen Nazi-Angeklagten, er habe nicht die blasseste Ahnung von der Existenz solcher Dinge gehabt.
Entsprach das der Wahrheit? Wie viel wusste er von den Massenexekutionen an Juden in Osteuropa? Was wusste er über die Todeslager? Rosenberg nahm dieses Geheimnis mit ins Grab. Er hinterließ nichts Schriftliches, keinen eindeutigen Beweis. (Selbst Hitlers Unterschrift tauchte niemals auf einem Dokument auf, in dem es um die Lager ging.) Und natürlich schrieb Alfred im Völkischen Beobachter niemals über die Lager, zumal nach den Richtlinien der NSDAP jede öffentliche Diskussion über die Lager ausdrücklich verboten war. Rosenberg wies das Gericht augenblicklich darauf hin, dass er eine Teilnahme an der folgenschweren Wannsee-Konferenz im Januar 1942 abgelehnt hatte, welche von den Größen der NS-Bürokratie wahrgenommen wurde und auf der Reinhard Heydrich mit lebhaften Worten die Pläne für die Endlösung beschrieben hatte. An seiner Stelle hatte Rosenberg seinen Assistenten Alfred Meyer entsandt. Meyer war über viele Jahre sein enger Mitarbeiter gewesen, und es ist unvorstellbar, dass die beiden nie über die Wannsee-Konferenz gesprochen haben sollten.
Am siebzehnten Tag des Prozesses präsentierte die Staatsanwaltschaft als Beweismittel einen vierstündigen amerikanischen Film mit dem Titel The Nazi Plan , zusammengeschnitten aus verschiedenen NS-Propagandafilmen und Wochenschaumaterial. Der Film begann mit Ausschnitten aus dem Film Der Triumph des Willens von Leni Riefenstahl, in dem Rosenberg, herausgeputzt in seiner prächtigen Parteiuniform, als aufgeblasener Erzähler auftrat. Alfred und die anderen Angeklagten zeigten ungeniert ihre Freude über diese kurze Rückschau auf ihre glorreiche Zeit.
Sobald andere Angeklagte im Gerichtssaal ins Kreuzverhör genommen wurden, war Alfred unaufmerksam. Manchmal zeichnete er Gesichter der Menschen im Gerichtssaal, manchmal wählte er auf seinen Kopfhörern die russische Übersetzung der Verhandlung, grinste und schüttelte den Kopf ob der Vielzahl von Übersetzungsfehlern. Selbst während seines eigenen Kreuzverhörs lauschte er der russischen Übersetzung und protestierte öffentlich gegen die vielen Übersetzungsfehler.
Im Verlauf des Prozesses nahm das Gericht Rosenberg viel ernster, als es die Nazis jemals getan hatten. Oft bezeichnete das Gericht ihn als den führenden Ideologen der NSDAP, als den Mann, der die Blaupause der europäischen Zerstörung gezeichnet hatte, und Rosenberg widersprach kein einziges Mal diesen Anklagepunkten. Man darf sich Görings gemischte Gefühle vorstellen: Einerseits ärgerte er sich über die Rosenberg zugeschriebene führende Rolle im Dritten Reich, und andererseits lachte er sich ins Fäustchen, weil es Rosenberg anscheinend nie in den Sinn kam, dass er damit sein eigenes Grab schaufelte.
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