»Ich dachte mir, du könntest deine Mitgift dazu benutzen, ein privates Hospital zu gründen«, meinte Athanaric – ein aufregend einfacher und naheliegender Vorschlag, der mir den Atem nahm.
»Würde Sebastianus das denn billigen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er ehrlich. »Aber wen hast du denn damals gemeint? Jemanden in Ägypten – diesen Burschen Philon?«
»Laß nur! Nein, natürlich nicht Philon. Das Ärgerliche an dir ist, daß du immer alles wissen willst, du kannst niemals etwas auf sich beruhen lassen. Wann bist du eigentlich zuerst darauf gekommen, die Wahrheit über mich zu erraten? Schon vor meiner Gefangennahme?«
Zwei von Frithigerns Männern rannten am Brunnen vorbei und hämmerten an die Wagentür meiner Patientin. Athanaric zog mich weiter in den Schatten zurück. »Die Suche hat begonnen«, sagte er. »Ich denke, wir sollten die Diskussion darüber, warum ich das Offensichtliche nicht früher entdeckt habe, bis zum nächsten Mal verschieben.«
»Wird es ein nächstes Mal geben?«
»Bei Gott, ich hoffe doch. Obwohl ich nicht weiß, wann ich wieder aus Ägypten weg darf. Vielleicht gelingt es Sebastianus, dich vorher rauszuholen. Doch was auch immer geschieht, laß dich von niemandem heiraten. Es würde alles nur viel komplizierter machen, dich hier rauszuholen. Und es würde Sebastianus mehr als alles auf der Welt verletzen. Kannst du ihm eine Botschaft übermitteln, selbst wenn du nicht in ihn verliebt bist?«
»Sag ihm, daß mich sein Angebot sehr ehrt und ich sehr dankbar dafür bin, die Klugheit dieses Entschlusses jedoch bezweifle. Und sag ihm, daß es mir gutgeht. Erzähl das auch Thorion und bitte ihn, er soll sich keine Sorgen machen, wenigstens klagt mich hier niemand der Zauberei an. Ich muß gehen; ich kann es nicht zulassen, daß diese Männer meine Patientin aufregen. Liebster Freund, ich wünsche dir alles Gute!« Er ergriff meine Hand, sah mir ins Gesicht und runzelte die Stirn. Ich hörte, wie im Wagen meiner Patientin Leute zu rufen anfingen. Dann schrie das Baby. Ich konnte nicht anders, ich beugte mich vor und gab Athanaric ganz rasch einen Kuß – ein gestohlenes Vergnügen! –, dann riß ich mich von ihm los, glitt unter dem Wagen hervor und lief los, um meiner Patientin zu Hilfe zu kommen. Als ich danach mit den Wachen herauskam, warf ich rasch einen Blick unter den Wagen, doch Athanaric war fort.
20
Das folgende Jahr war das schlimmste meines Lebens.
Selbst nachdem Athanaric fort war, wurde ich dauernd bewacht. Jede Nacht wurden mir meine Kleider weggenommen und nicht vor dem nächsten Morgen wiedergegeben. Ich wurde direkt zum Hospital geführt und dort ununterbrochen beaufsichtigt. Man verbot mir, römische Patienten zu behandeln. Aus Protest dagegen weigerte ich mich strikt, auch nur einen einzigen gotischen Krieger zu behandeln, doch dies zeigte keine große Wirkung, da es andere gab, die dazu bereit waren. Nur um die römischen Sklaven kümmerte sich niemand. Es brach mir das Herz, überall im Lager auf sie zu treffen: Sie waren krank und leidend, und ich konnte ihnen nicht helfen. Ich hätte vielleicht sogar eingewilligt, einen Goten zu heiraten, falls man mir versprochen hätte, Römer behandeln zu dürfen – doch Amalberga wiederholte nur immer wieder, ein derartiges Versprechen müsse meinem Ehemann überlassen bleiben.
Und jedermann redete und redete wegen dieser Ehe auf mich ein. Nach meinen blutdürstigen Erklärungen wollte mich niemand gegen meinen Willen heiraten, doch eine ganze Anzahl gotischer Anführer war der Meinung, sie könnten mich dazu bewegen, meine Meinung zu ändern. Anfangs war ich überrascht, daß ich überhaupt interessant für sie war; immerhin gab es wenige Römer, die mich, eine Fortgelaufene ohne Mitgift, wollten. Doch ich machte die Erfahrung, daß nichts so sehr Aufmerksamkeit erregt wie eine skandalumwitterte Berühmtheit. Für einen jungen gotischen Edelmann, der sich einen Namen machen wollte, stellte ich eine glänzende Gelegenheit dar: Die Frau zu heiraten, die Festinus Schande bereitet hatte, würde ihm den Ruhm auf dem Servierteller einbringen. Außerdem erwarteten sie in der Mehrzahl, daß meine Familie, wenn ich erst einmal verheiratet war, nachgeben und für eine Mitgift sorgen würde. Ich wurde also in regelmäßigen Zeitabständen mit dem einen oder anderen dieser Edelleute alleine gelassen, und sie mühten sich ab, sich mit mir zu unterhalten oder mich ins Bett zu zerren, oder auch alles beides, während ich mich ihrer so höflich wie irgend möglich erwehrte. Ich mußte höflich sein, da ich es nicht wagte, solche mächtigen Männer ernsthaft zu beleidigen. Doch sie fühlten sich zu keinerlei Höflichkeit verpflichtet; sie waren der Ansicht, daß sie mich genügend ehrten, wenn sie mir die Ehe anboten. Einige von ihnen wahrten die gesellschaftlichen Manieren, andere jedoch nicht, und ich benötigte meine fünf Sinne und eine entschlossene Hand, um mit ihnen fertig zu werden. Das alles wäre sicher sehr komisch gewesen, wenn ich nicht solche Angst gehabt hätte und wenn mir nicht jedesmal so elend zumute gewesen wäre, sobald ich noch einmal davongekommen war. Und trotz allem waren sie natürlich beleidigt. Mit der Zeit entwickelte ich ein beträchtliches Mitgefühl für Penelope von Ithaka, die eine derartige Situation zehn Jahre lang ausgehalten hatte – aber keiner der Goten hatte je von ihr gehört, und keiner würde mit mir zusammen darüber lachen. All die edlen Frauen schwärmten mir gegenüber immer und immer wieder von dem Mut und der Tapferkeit und der Mannestugend von Munderich oder Levila oder Lagriman oder einem anderen jener ungebildeten, schwertrasselnden Barbaren, der mich gerade ins Auge gefaßt hatte, bis mir schon beim Klang des Gotischen ganz übel wurde und ich mir wünschte, ich hätte Festinus geheiratet und es damit hinter mich gebracht.
Aber dies waren im Grunde genommen alles noch keine ernsthaften Probleme. Die begannen erst in jenem Winter. Im Frühherbst marschierten die vereinigten römischen Streitkräfte in nördliche Richtung und trafen bei Salices auf die Goten, wo sich beide Seiten eine offene Feldschlacht lieferten. Es gab ein großes Gemetzel, aber keinen eindeutigen Sieger. Die gotischen Truppen zogen sich nach Carragines, die römischen nach Marcianopolis zurück. Die Goten versorgten ihre Verwundeten und stritten darüber, was sie als Nächstes tun sollten. Die Römer, etwas praktischer und fleißiger veranlagt, verbarrikadierten die Pässe in den Hämusbergen. Ehe die Goten dies so recht mitbekamen, saßen sie im Norden der Diözese in der Falle, und dort gab es, wie Amalberga bereits gesagt hatte, nichts zu essen.
Die Goten unternahmen ein paar Versuche, die römischen Linien zu durchbrechen und in den stärker bevölkerten und wohlversorgten Süden vorzustoßen. Sie handelten sich jedoch nur weitere Verluste ein. Frithigern schickte Abgesandte an die Römer in Marcianopolis, aber sie wurden an den Toren abgewiesen und nicht einmal in die Stadt gelassen. Die Römer waren nicht bereit, zu verhandeln. Frithigern schickte Abgesandte nach Tomis und machte das Angebot, mich gegen Getreidevorräte einzutauschen, doch inzwischen war es Spätherbst geworden und Thorion war offensichtlich bereits nach Bithynien versetzt worden. Der neue Statthalter aber gab nichts auf Frithigerns Drohungen. Ich wurde während dieser Vorgänge im Haus gefangengehalten, aber schließlich wurde dem König klar, daß sich niemand groß dafür interessierte, was mit mir geschah, außer daß vielleicht irgendwann jemand auf den Gedanken kam, mein Schicksal zu rächen. So schickte er mich wieder ins Hospital, damit ich mich um die Kranken kümmerte. Meine medizinischen Fähigkeiten waren gefragter als je zuvor. Wenn die Menschen frieren und hungern, erkranken sie schnell. Außerdem sterben sie leicht. Im besten Fall, hat einmal jemand gesagt, ist die Medizin »ein Nachdenken über den Tod«. Und in jenem Winter in Carragines schien der Tod manchmal das einzige zu sein, woran ich denken konnte. Die Tage waren eine unendlich lange Kette von Hunger und Kälte, Krankheit und harter Arbeit; ausgemergelte, vom Fieber geschüttelte Körper unter Bettzeug voller Ungeziefer; grauhäutige, auf Lastkarren gestapelte Leichname, die auf ihre Verbrennung warteten und deren Augen glasig und gefroren waren; das leise Wimmern verhungernder Kinder und das stille Sterben alter Frauen; der Rauch von den Feuerstellen und der scharfe Geruch nach Enzian. Meine Patientin, bei der ich einen Kaiserschnitt durchgeführt hatte, verlor ihr Baby, dann starb sie selbst. Die römischen Sklaven, die ich in jenem Sommer zusammengeflickt hatte, wurden massenweise unter einer dünnen Schicht zusammengekratzter gefrorener Erde verscharrt. Das war für mich schlimmer als die dauernden Versuche der Goten, mich zu einer Ehe zu überreden, schlimmer, als eine Gefangene zu sein, ja sogar schlimmer als das Verbot, die Römer zu behandeln. Ich war vom Tod umgeben, und meine gesamte Heilkunst blieb nutzlos.
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